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Die Ringe der Einheit

Von Anne Höhne

Ich kam in eine graue, zerfallene Stadt. Es brannten keine Laternen und es roch nach Rauch und Verwesung. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Die maroden Hauswände waren mit Abstandsmahnungen plakatiert und ich kämpfte mit der Übelkeit. Ich stolperte über Schlaglöcher und hatte Not, in der Dunkelheit nicht ins Geröll zu fallen. Die Stadt mündete in einer Wiese, von wo aus ich lautes Geschrei vernahm.

 Ich entdeckte dort drei tobende Kinder. Als ich näher zu ihnen kam, erkannte ich, dass sie weinten und zankten. Ihr Weinen und Zanken war so ansteckend und einladend, dass ich mich ihnen ohne langes Nachdenken anschloss. Zuerst weinte ich nur und schrie laut auf. Da ich den Grund ihres Streites nicht kannte, ergriff ich mal für den Einen und dann wieder für den Anderen Partei. Das muss von außen ein recht lächerliches Bild abgegeben haben, doch wie soll ein Mensch in Freude lachen, wenn er in Trauer und Wut nicht weint?

Wir stritten uns weiter in Rage und fuhren ganze drei Tage so fort. Irgendwann wurden wir doch der Widerworte müde, wurden leise, wimmerten noch ein wenig nach und ließen uns erschöpft auf das Gras neben das Tränenmeer nieder. Wir schwiegen und schliefen ein. Nach dem Aufwachen erkundigte ich mich vorsichtig nach dem Grund des Streites. Ich fürchtete zwar, das Feuer erneut zu entfachen, aber die Erschöpfung war größer und so fing der Jüngste an zu erzählen.

Die Kinder seien Brüder gewesen und trauerten um ihre Eltern. Die Mutter, die ihnen das Leben und die Liebe geschenkt hatte, sei in einer stürmischen Nacht verschwunden. Und der Vater, der ihnen Führung und Ordnung lehren sollte, habe erst alles vergessen und sei dann wegen des Kummers über den Verlust seiner Gemahlin verstorben.

Der Vater hätte einen Ring besessen. Dieser sei über Generationen von Vater zu Sohn weitergegeben und Stolz der Familie gewesen sein. Es handelte sich um einen besonders kostbaren Ring mit einem funkelnden Opal. Der Ring war das Symbol des Stadtfürsten, welcher dem Träger Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und nicht zuletzt Gerechtigkeit schenkte. Diese Eigenschaften waren es, die dem Fürsten der Stadt helfen sollten, Wohlstand, Frieden und Bildung der Bürger sichern.

Auf meine Frage, was nun nach dem Tode des Vaters mit dem Ring geschehen sei, entflammte der Zorn der Brüder von Neuem, die sich des Redens müde mit Fäusten und Fußtritten über die Wiese kugelten. Diesmal hielt ich mich zurück und sinnierte darüber, was wohl mit dem Ring geschehen sei.

Die Knaben, die vom letzten Streit noch zu erschöpft waren, hielten nicht lange aus. Verschrammt setzten sie sich wieder und jetzt erkannte ich, dass jeder von ihnen einen identischen Ring mit einem eingefassten Opal trug. Der Älteste erzählte, dass der Vater jedem von ihnen einen Ring geschenkt hätte. Jeder gleiche dem anderen haargenau, dass kein Mensch erkennen konnte, wer den echten Ring des Fürsten trug. Da nun unklar war, wer den echten Ring der Gerechtigkeit trug, konnten sich die Brüder nicht einig werden, wer der neue Fürst werden sollte.

Deshalb hatte die Stadt keinen Fürsten und der Irrsinn hatte die Regierungsgebäude besetzt. Der Irrsinn, ein tyrannischer Herrscher, war im ganzen Land für dessen Mordsucht und Habgier bekannt. Es sei Schuld am Verfall der Stadt, am Elend und Vergehen der Bürger. Solange sich die Brüder nicht einigten und der rechtmäßige Fürst sein Amt nicht annehme, würde der Irrsinn weiter um sich greifen und seine Macht über Stadtgrenzen hinaus ausweiten. Als die Köpfe der Knaben wieder erröteten, ging ich dazwischen:

Ich stotterte zuerst und versuchte die richtigen Worte zu finden. Ich stellte mich auf, um Zeit zu gewinnen, räusperte mich und begann zu erzählen.

»Wisst ihr es denn gar nich? Hätte ich das früher gewusst, ja dann hätte ich es gleich erzählt. Ich wusste doch nicht, wer ihr seid. Und das meine Geschichte die eure ist.

Also, im Süden traf ich einen Fuhrmann, der mich zu einer Insel bringen sollte. Wir überquerten das Wasser bei Mitternacht und beim tiefsten Punkt des Sees warf er ein kleines Leinenbündel über Bord. Natürlich wollte er mir erst nichts sagen, doch irgendwann singt jeder! Eine weinende Frau habe ihn gebeten, etwas für sie verschwinden zu lassen. Es handelte sich um einen kostbaren Ring. Er sei ein Familienerbstück gewesen und er sollte, wie sie sagte, für großen Ärger sorgen. Es sei der Ring der Gerechtigkeit und dieser würde ihre Familie in großes Unglück stürzen, wenn er nicht auf ewig verschwinde. Die Frau, die ihren Mann und ihre Kinder über alles liebte, konnte den Gedanken nicht ertragen, dass nur einer ihrer drei Söhne erben und regieren würde. Sie schenkte doch allen gleichermaßen das Leben, sorgte für sie und allen gehöre die Stadt und Welt zugleich. Wenn der Ring den Fürsten wählen sollte, dann müsse entweder jeder ihrer Söhne einen erhalten oder keiner. Und so stahl sie den Ring und sich davon. Nun verstehe ich auch, wohin eure Mutter verschwand und

ich verstehe den Kummer des Vaters. Eure Mutter, die euch alle gleichwertig sah, wollte niemals, dass ihr streitet. Wahrscheinlich ließ euer Vater drei identische Ringe nachmachen. Im Sinne seiner Ordnung sollt ihr somit alle herrschen, einig und gemeinsam - oder niemand von euch und somit der Irrsinn.«

Die Knaben sahen sich an und verstanden. Wieviel Zeit war unnötig verstrichen, wie viele Tränen wurden vergossen und wie viele Schläge ertragen?? Noch an diesem Tage schworen sie sich, den Irrsinn aus der Stadt zu treiben. Ein jeder solle gehört und Entscheidungen in Wahlen getroffen werden. Auch wollten sie nicht alleine regieren. Ein jeder Bürger solle einen Ring erhalten und in Gemeinschaft eroberten sie den Wohlstand, den Frieden und die Bildung zurück. 




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 16 am 21. Aug. 2020




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