Erleben wir in dieser Zwangseinsperrung einen neuen Totalitarismus?
In vielen Lagern wird gegenwärtig die
Hypothese formuliert, dass wir tatsächlich das Ende einer Welt erleben,
derjenigen der auf Rechten, Parlamenten und Gewaltenteilung beruhenden bürgerlichen Demokratien,
die einer neuen Despotie Platz macht,
welche hinsichtlich der Zudringlichkeit der Kontrollen und der Unterbindung jeglicher politischer Tätigkeit
schlimmer sein wird als die Totalitarismen, die wir bisher kennengelernt
haben.
Amerikanische Politologen sprechen
vom Security State, einem Staat also,
in dem »aus Sicherheitsgründen« die
individuellen Freiheiten in jedweder
Weise beschränkt werden können, in
diesem Fall aus Gründen »der öffentlichen Gesundheit« — ein Begriff, der
die berüchtigten »Comités de salut
public« (Anm. d. Übers: Wohlfahrtsausschüsse zur Zeit der französischen
Revolution) während des Terrors ins
Gedächtnis ruft.
Im Übrigen sind wir in Italien seit
Langem an die Gesetzgebung durch
Notverordnungen seitens der Exekutive gewöhnt, die sich auf diesem
Wege an die Stelle der Legislative
setzt und das Prinzip der Gewaltenteilung als Grundlage der Demokratie
faktisch abschafft. Und die mittels
Videokameras und nun, wie vorgeschlagen wurde, durch Mobiltelefone
ausgeübte Kontrolle übersteigt bei
Weitem jede Form von Kontrolle, die
unter totalitären Regimes wie dem
Faschismus oder dem Nationalsozialismus ausgeübt wurde.
Hinsichtlich der Daten sollte, neben
jenen Daten, die über Mobiltelefone
gesammelt werden, auch eine Reflexion über diejenigen stattfinden, die
auf zahlreichen Pressekonferenzen
verbreitet und allzu oft unvollständig
oder falsch interpretiert wurden.
Dies ist ein wichtiger Punkt, denn er
rührt an die Wurzel des Phänomens.
Jeder, der sich ein wenig mit der
Erkenntnistheorie auskennt, kommt
nicht umhin, sich zu wundern, dass
die Medien in all diesen Monaten
Zahlen bar jeden Kriteriums der Wissenschaftlichkeit verbreitet haben,
nicht nur, ohne sie in Relation zur
jährlichen Sterblichkeit im gleichen
Zeitraum zu stellen, sondern sogar
ohne präzise Angabe der Todesursache. Als jemand, der weder Virologe
noch Arzt ist, werde ich mich darauf
beschränken, einfach zuverlässige
offizielle Quellen zu zitieren. 21.000
Todesopfer durch Covid-19 scheinen
und sind sicherlich eine eindrucksvolle Zahl. Setzt man die Dinge
allerdings, wie man es tun muss, in
Relation zu den jährlichen statistischen Daten, so sehen sie ganz anders
aus. ISTAT-Präsident Dr. Gian Carlo
Blangiardo gab vor ein paar Wochen
die Gesamtmortalität des vergangenen Jahres bekannt: 647.000 Todesfälle (1.772 Todesfälle pro Tag).
Analysieren wir die Ursachen im
Detail, ergibt sich, dass gemäß den
neuesten verfügbaren Daten für 2017 230.000 Todesfälle durch
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
180.000 Todesfälle durch Krebs und
mindestens 53.000 Todesfälle durch
Atemwegserkrankungen verzeichnet
sind. Ein Punkt aber ist besonders
wichtig und betrifft uns unmittelbar.
Welcher?
Ich zitiere Dr. Blangiardos Worte:
»Im März 2019 gab es 15.189 Todesfälle aufgrund von Atemwegserkrankungen und im Jahr zuvor waren es
16.220. Übrigens ist dies mehr als die
entsprechende Zahl der Todesfälle
durch Covid (12.352), die im März
2020 gemeldet wurde.« Aber wenn
dies zutrifft — und wir haben keinen
Grund, daran zu zweifeln —, müssen
wir uns, ohne die Bedeutung der Epidemie herunterspielen zu wollen, die
Frage stellen, ob dies Maßnahmen
zur Einschränkung der Freiheit, wie
sie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ergriffen wurden, nicht
einmal während der beiden Weltkriege, rechtfertigen kann.
Es besteht der berechtigte Verdacht,
dass der Bevölkerung durch die Verbreitung von Panik und die Isolierung der Menschen in ihren Häusern
die sehr ernste Verantwortung der
Regierungen, die zuerst den nationalen Gesundheitsdienst abgebaut und
dann in der Lombardei eine Reihe
nicht minder schwerwiegender Fehler
im Umgang mit der Epidemie begangen hatten, aufgebürdet wird.
Tatsächlich boten sogar die Wissenschaftler kein gutes Bild. Es scheint,
dass sie nicht in der Lage waren, die
von ihnen erwarteten Antworten zu
geben.
Wie denken Sie darüber?
Es ist immer gefährlich, Ärzte und
Wissenschaftler mit Entscheidungen
zu betrauen, die letzten Endes ethischer und politischer Natur sind.
Sehen Sie, Wissenschaftler handeln,
ob zu Recht oder zu Unrecht, in
gutem Glauben gemäß ihren eigenen
Beweggründen, die mit dem Interesse der Wissenschaft übereinstimmen und in deren Namen sie — dies
beweist die Geschichte zur Genüge
— bereit sind, jegliche moralische
Skrupel zu opfern. Ich brauche nicht
daran zu erinnern, dass unter den
Nazis hoch renommierte Wissenschaftler die Politik der Eugenik leiteten und nicht zögerten, die Konzentrationslager zu benutzen, um tödliche
Experimente durchzuführen, die sie
als für den Fortschritt der Wissenschaft und die Behandlung deutscher
Soldaten nützlich erachteten.
Im vorliegenden Fall ist das Spektakel besonders beunruhigend, denn in Wirklichkeit herrscht, auch wenn die Medien dies verbergen, keine Einigkeit unter den Wissenschaftlern, und einige der berühmtesten unter ihnen haben abweichende Ansichten über die Ernsthaftigkeit der Epidemie und die Effektivität der Isolationsmaßnahmen, wie der vielleicht bedeutendste französische Virologe Didier Raoult, der sie in einem Interview als mittelalterlichen Aberglauben bezeichnete. An anderer Stelle schrieb ich, die Wissenschaft sei zur Religion unserer Zeit geworden. Die Analogie zur Religion ist wörtlich zu verstehen: Theologen erklärten, sie seien nicht in der Lage, klar zu definieren, was Gott ist, und doch diktierten sie den Menschen in seinem Namen Verhaltensregeln und schreckten nicht davor zurück, Ketzer zu verbrennen; Virologen geben zu, dass sie nicht genau wissen, was ein Virus ist, aber in seinem Namen beanspruchen sie entscheiden zu können, wie Menschen leben sollen. Man sagt uns — wie es in der Vergangenheit schon oft geschah —, dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war, und dass sich unser Leben ändern müsse.
Was glauben Sie wird geschehen?
Ich habe bereits versucht, die Form
des Despotismus darzustellen, mit
der wir rechnen müssen und gegen
die wir nicht müde werden dürfen,
wachsam zu sein. Aber wenn wir
einmal den Bereich des Aktuellen
verlassen und versuchen, die Dinge unter dem Gesichtspunkt des
Schicksals der menschlichen Spezies
auf der Erde zu betrachten, kommen mir die Gedanken des großen
niederländischen Wissenschaftlers
Louis Bolk in den Sinn.
Bolk zufolge charakterisiert die
menschliche Spezies eine fortschreitende Hemmung vitaler natürlicher
Anpassungsprozesse an die Umwelt,
die durch ein hypertrophes Anwachsen technologischer Dispositive ersetzt werden, die die Umwelt
ihrerseits an den Menschen anpassen. Überschreitet dieser Prozess eine
bestimmte Grenze, so gelangt er an
einen Punkt, an dem er kontraproduktiv wird und zur Selbstzerstörung
der Spezies führt. Phänomene wie
die, die wir erleben, scheinen mir
darauf zu deuten, dass dieser Punkt
erreicht ist und dass die Medizin, die
bestimmt war, unsere Krankheiten
zu kurieren, Gefahr läuft, ein noch
größeres Übel zu produzieren. Auch
gegen dieses Risiko müssen wir uns
mit allen Mitteln wehren.
Agamben gilt seit 25 Jahren als einer
der wichtigsten Denker der Gegenwart. Dieser Text erschien zuerst
unter dem Titel »Nuove riflessioni«.
Die hier übernommene Übersetzung
lesen Sie unter rubikon.news/artikel/die-demokratie-dammerung