Gergijew ist besser

Wegen des ablaufenden Genozids an den Palästinensern in Gaza haben es israelische Stars weltweit schwerer. Zuletzt lud ein belgisches Musikfestival deshalb die Münchner Philharmoniker aus. Es stellt sich heraus: Es war auch ein kollegialer Akt. | Bericht von Anselm Lenz

Von Anselm Lenz

Die Weltlage fluktuiert und damit die Feindbilder. In der zurückliegenden Woche haben der belgische Kultusminister, der Rat der belgischen Stadt Gent in Ostflandern und das umfangreiche Flämische Musikfestival die Münchner Philharmoniker ausgebootet – wegen des israelischen Genozids am palästinensischen Volk. Der Dirigent Lahav Shani habe sich nicht ausreichend von der Regierung Netanjahu und deren Völkermord distanziert. 

Der Hintergrund des Vorgangs ist schnell erzählt: Shani wird derzeit zum Nachfolger des Russen Waleri Gergijew als Chefdirigent der weltbekannten Münchner Philharmoniker aufgebaut. »Dieser musste gehen, weil er sich aus Sicht des Münchner Stadtrats nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nicht hinreichend von Präsident Wladimir Putin distanziert hatte«, meldete sogar die Propagandaplattform tagesschau.de kleinlaut. Der kulturpolitisch weltweit Aufsehen erregende Vorgang der Shani-Ausladung der ablaufenden Woche ist also auch ein kollegialer »Stellvertreter-Akt« der flämischen Festivalleitung. Der europäischen Musik ist vor drei Jahren ein weltbekannter russischer Dirigent wegen des Tiefen Staates und der Militärinteressen der zwei verbliebenen Besatzungsmächte auf dem europäischen Kontinent weggenommen worden. Gergijews Vertrag in München war im Jahr 2018 bis 2025 zunächst verlängert, am 1. März 2022 jedoch vorzeitig gekündigt worden. Weil sich Gergijew weigerte, sich pauschal und auf Aufforderung von Russland loszusagen. Das rachsüchtige Regime machte nicht mal vor der weltweiten Opernkoryphäe Halt, der russischen Sopranistin Anna Netrebko. 


Perverse Politfunktionäre


Mit wolkigen Worten staatstragender Gewichtigkeit eröffneten nun am Montag perverse Kulturfunktionäre und der staatliche Propagandafunk RBB das eilig anberaumte politische Ersatzkonzert in Berlin. Der selbstdelegitimierte BRD-Staat und dessen Fake-Eliten ringen um ihre letzten charismatischen Momente. Die findet der schwer belastete Spritzen- und Kriegsklüngel immer wieder in der Beschwörung bedingungsloser Solidaritäten mit hochtönenden Unterwerfungsgesten in den Okzident. BRD-Wirtschaftsabwicklung plus NATO-Weltkriegsvorbereitungen nach »Operationsplan Deutschland« brauchen rituelle Handlungen, um den Mittelbau des Staatsapparates zu stabilisieren. Dazu taugt den Machthabern die Kulturproduktion noch. 

Die »Bedingungslosigkeit West« gilt wegen des Holocausts (oder eher wegen der Weltkriegsniederlagen?), in der BRD allem und jedem, der irgendwie mit »Der Westen«, also dem Apparat von NATO, Washington und Tel Aviv frei assoziiert werden kann. Bist du nicht drin, bist du draußen. Immer mehr sind mittlerweile draußen – und wollen gar nicht mehr drin sein. Die BRD und ihre nicht sehr elitentauglichen Eliten stehen mittlerweile recht einsam da. Am Montag brauchten sie Polizeischutz vor dem Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt, oder glaubten Polizeischutz zu brauchen, was drinnen bei Erwähnung zu Applaus führte. Wir hier drin: »Ein Aushängeschild deutscher Kultur und Weltklasse« sah der parteilose Kulturstaatsminister, Verleger und Publizist Wolfram Weimer, ehemals Chefredakteur von Die Welt. Mein Gott, ist der peinlich. 


Mein Gott, ist der peinlich: Wolfram Weimer


Im Fall des Dirigenten Shani war es mit der Solidarität zuvor zunächst andersherum gelaufen. In Ländern wie Südafrika Spanien, Norwegen, Irland, Frankreich, Belgien und über Hundert weiteren Ländern der Erde will man sich dem selbsternannten Nukleus von »Der Westen« nicht mehr unterwerfen. Der kombiniert diktatorische Elemente mit militärischen, gesundheitspolitischen, konzernmedialen und nicht zuletzt militärischen Elementen. Die offensichtlichen Terrorakte des Vorpostens Israel erzeugen weltweit Abscheu. Zumindest will man Vertreibung und Auslöschung Palästinas nicht bedingungslos mittragen. Im Zuge dieses weltweiten Stimmungswandels hatte zunächst die West-Vorzeigeaktivistin Greta Thunberg die Seiten gewechselt und war medial gesteinigt und entehrt worden. Ihres Zeichens immerhin eine öffentlich auftretende Politikerin, die sich einem Risiko bewusst sein konnte und samtweich fällt.

In Lahav Shani suchte sich der immer stärker werdende Gegendruck nun einen Künstler aus, dem die öffentliche Erregung im Grunde nichts anlasten kann, außer dass er neben dem berühmten Münchener Orchesters die Israelische Philharmonie leitet. Was sollte daran verkehrt sein? Wegen Shani heißt es von Seiten des belgischen Klassikfestivals: »Im Lichte seiner Rolle als Chefdirigent des Israel Philharmonic Orchestras sind wir nicht in der Lage, für die nötige Klarheit über seine Haltung dem genozidalen Regime in Tel Aviv gegenüber zu sorgen«

Shani war also von der Festivalleitung um Jan Briers dazu aufgefordert worden, bei dem Auftritt in Gent, der für Donnerstag angesetzt gewesen war, ein Zeichen gegen den Genozid in Gaza zu setzen. Shani hatte dies wohl abgelehnt. Abgestimmt bei der Ausladung des deutschen Orchesters und dessen israelischen Dirigenten habe man sich mit dem belgischen Kultusminister, dem Rat des Stadt und dem Kulturdezernat beziehungsweise der Genter Kulturbranche insgesamt, so die Verlautbarung Briers. Und wie bestellt: Der deutsche Vasall springt bei und die BRD-Kulturfunktionärsgelumpe feierte die Heimholung wie einen Reichsparteitag. Das abgesagte Konzert in Belgien wurde am Montag in Berlin nachgeholt. Das Gute daran: Es wurde Musik gespielt. 

Die Posse erzählt mehr über den weiteren Niedergang der staatlich und konzernmedial organisierten Kunstproduktion ins Weltkriegspolitische (elende Geopolitik). Der Wahn der Kündigung des großen russischen Dirigenten, dessen gutaussehender, aber relativ bedeutungsloser israelischer Ersatzmann, die Kündigung Netrebkos und weiterer – und auch diese Ausladung ganzer Orchester wegen perfider Politikerratten und Distanzeritis: Das ist einfach nur zum Würgen. Im Grunde müsste das Publikum gemeinsam mit dem Orchester aufstehen und den dumpfen Politikerabfall eigenhändig rausschmeißen oder noch im Saal vertrimmen. Wir wollen die Musik und nicht Euch! 


Politikergeschmeiss: Abfall! Erbärmlicher Abfall!


Nun ist die Hoffnungslosigkeit mit dem unmusikalischen Politgesocks auch noch in unsere Konzertsäle eingezogen. Der Bekenntniszwang muss offenbar immer weiter getrieben werden, sonst spüren sich die scheiternden Politiker nicht. Während der Existenz dieser Zeitung standen diese Gruppen bereits teils wörtlich und namentlich auf den »Abschusslisten« der Regierungsfans: Maßnahmengegner, Querdenker, Imfgegner, Reichsbürger, »Todesliste der 250 Menschenfeinde« (inklusive einiger Autorinnen und Autoren dieser Zeitung), Staatsdelegitimierer, Rechte, Verschwörungsideologen, Esoteriker, Russophile, Russen, Trumpisten, Kommunisten, Friedensfreunde, Menschenrechtler, Thunbergs Klimakleber, Palästinenser – und wenn nichts mehr hilft, dann lauern dem niedergehenden Regime an jeder Ecke »Antisemiten«. 

Mit Ludwig van Beethovens dritter Sinfonie »Eroica«, der heldenhaften, wurde am Montag ein revolutionäres Werk in Es-Dur gespielt, das mit den Mitteln der klassischen Sinfonie bereits die Romantik und damit eine neue Epoche eröffnete; erste öffentliche Premiere war am 7. April 1805 im Theater an der Wien. Ursprünglich für Napoleon Bonaparte gedacht, zog Beethoven die Widmung nach dessen Krönung zum Kaiser wütend zurück, was zu dem berühmten Loch im Notenblatt führte. – Für die Posse um Absagen und Heimholung der Münchner Philharmoniker meine ich: Die Rolle des Dirigenten dient bei großen Profi-Orchestern vor allem der Repräsentation. Wenn die denn sein muss: Gergijew ist weit besser als Shani. Weshalb sie sich nicht auf Kommando von ihren Ländern »distanzieren«, ist mir egal und geht das Politikergeschmeiß nichts an. Der Sieg geht an Beethoven und damit die Musik selbst. Das peinliche Politikergeschmeiß steht als das da, was es ist: Abfall, nichts als erbärmlicher Abfall. Kann weg! 


Artikelbild: Ludwig van Beethoven (1770–1827); idealisierendes Gemälde von Joseph Karl Stieler, um 1820, commons.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 229 am 19. Sep. 2025




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