Wozu noch Philosophie
Fakten, Fakten, Fakten – so schwor uns schon vor Jahren ein rundlicher Focus- Herausgeber auf die Zukunft der gelenkten Meinungsgesellschaft ein. Wer steckt hinter all diesem Wahnsinn – so waren sich jene Entdecker einig, die wissen, dass auch Fakten eine Geschichte haben und gemacht sind. Dass beide Aufklärungsstrategien nicht zusammenfinden, liegt auf der flattrigen Hand jenes Zeitgeistes, der seit Jahren dabei ist, alle Werte und Wahrheiten umzuwerten. Wer in monotonen Singsang Worte wiederholt, wie etwa »Verschwörungstheoretiker« oder »Demokratie« zeigt sich ja gerade misstrauisch gegenüber Diskursen, die eigentlich kein Einpauktraining benötigen. Wahrheit ist evident und benötigt kein Umsetzungsmanagement. Aber Aufklärung in diesen prekären Zusammenhängen zu betreiben, bedeutet auch mehr, als eine historische Detektei mit angeschlossener Psychotherapie. Von Daniele Ganser bis Hannah Arendt und Rainer Mausfeld reicht das Spektrum der Aufklärer, die als Zeugen dieses notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Enligthenment gelten dürfen. Die Gegenposition hingegen vertreten Philosophen wie Peter Sloterdijk und Richard David Precht, die in den letzten Jahren manches krude Denken aus ihren Füllhörnern über die westliche Wertegemeinschaft ausgeschüttet haben.
Um dies kurz zu umreißen: Auf dem Höhepunkt der Coronakrise forderte Precht quasi im Sinne Imanuel Kants von der Gesellschaft nicht weniger als die Befolgung des Gebots der moralischen Pflichterfüllung: Jeder müsse demgemäß eine Maske tragen und sich impfen lassen – ohne die Notwendigkeit der Maßnahmen in Frage zu stellen: Es muss sein, was sein muss. Damit hatte dieser windige Philosoph aus Solingen »fertig«. Natürlich würde sich ein Kant im Grabe herumdrehen angesichts dieser Auslegung seines kategorischen Imperativs. Sloterdijk hingegen forderte beider Durchsetzung der Coronamaßnahmen vom Staat sprichwörtlich eine »harte Hand« gegenüber den Bürgern, die sich dem Gebot eines allgemeinen Willenswidersetzen. Geradezu peinlich und doch folgerichtig outet sich der Zeitgeistphilosoph als Feind des widerständigen Individuums und als Anhänger eines gelenkten Gemeinsinns, der hart am Totalitarismus grenzt. »Das Ganze ist das Unwahre«, hatte Adorno uns Spätgeborenen ins Stammbuch geschrieben In der Tradition Hegels deutet nun Sloterdijk den Satz so um: »Das Ganze ist das Wahre.« Ich hege den Verdacht, dass hier ein Philosoph sich aus Entzücken darüber, endlich vom System belobigt zu werden, gemein macht mit der Macht. DAS
Ungelebte Leben und der abstrakte Tod
Eine Meditation auf das Corona-Geschehen: Zwei Jahre »Corona-Pandemie« haben eine unter der dünnen Decke der Zivilisation verborgene Frage ans Tageslichtgehoben. Wie gehen wir als Menschen mit unserer Endlichkeit, aber auch mit unserer unstillbaren Sehnsucht nach einem Weiterleben nach dem Tode um – nachdem die christliche Erzählung an Wirkungskraft massiv eingebüßt hat – mitsamt Himmel, Hölle und was sonst noch? Das uns auferlegte Schicksal des Todes war immer integriert gewesen in eine Kultur, in der sich ein bestimmter Austauschzwischen Leben und Tod vollzog, in der die kurze individuelle Lebenszeit und die allgemeine unendliche Weltzeit eine mythisch rituelle oder religiöse Verknüpfung erfuhren. Diese Verknüpfung ist heute zerrissen. Der Austausch ist in den letzten zwei Jahren massiv einer binären Polarität zwischen Leben und Tod gewichen, die sich in Hinblick auf die sogenannte Pandemie so ausdrückt: Während der Tod gemeinhin verdrängt und tabuisiert wird, tritt er im Rahmen der Corona-Politik als moralisch getönte Todesdrohung wieder auf. Dieser Todesdrohung korrespondiert eine fanatisch betriebene Gesundheitspolitik. In ihr wird Leben ausschließlich definiert als Lebenserhaltung.
Der Philosoph Peter Strasser sieht die Konsequenzen daraus so: »Wir haben die Lust am Leben eingetauscht gegen die Gier, nicht sterben zu müssen.« Wir sind hier genau auf die Matrix des Corona-Geschehens (es ist übrigens mehr als eine »Inszenierung«, meine lieben Experten) gestoßen: als Bewohner eines Ortes »Nirgendwo«, zugleich zu Patientenmutiert, welche die Vielfalt und unendliche Intensität des Lebens einem Dasein als metaphysisch ausgebrannte »Überlebende« opfern. Der vielleicht verhängnisvollste »einfache« Satz lautet heute: Hauptsache gesund, alles andere kommt danach. Ja was danach? Was steckt hinter dieser obsessiven Einschränkung des Lebens? Welche Verbindung gehen darin Moral, Affekte und letztlich auch ein wahnhafter Fortschrittsglaube ein?
Das gezähmte Leben
Die Gefährten des Odysseus – so erzählt uns der Philosoph Theodor W. Adorno in seiner »Dialektik der Aufklärung« – müssen mit ansehen, wie sich ihr listiger Kriegsherr an den Mast ihres Schiffes fesseln lässt, um so zu verhindern, dass er dem rauschhaften Gesang der Sirenen erliegt und sich ins Verderben stürzt. Er möchte mit allen Fasern seines Daseins den absoluten Lustgewinn, aber sein Überlebenswille ist gleichzeitig so groß, dass er zuletzt den selbstquälerischen Verzicht und die Lust in einen Kompromiss überführt. So etwas, pflichtet ihm Sigmund Freud bei, nennt man Kultur: Sie ist das gezähmte Leben, das unerfüllte Verlangen. Sie ist auch so etwas wie ein Maßnahmenkatalog zur Abwehr destödlichen Rausches und zugleich der Befehl, sein Glück aufzuschieben. Dagegen formuliert Goethes »Faust« eine andere Position in diesem Ringen um das gelingende Leben. Er will von seinem Widerpart Mephisto die absolute Erfüllung– und möchte für diesen Wahn sein Leben opfern. Das klingt dann so: »Sollt’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön, so magst du mich in Kettenschlagen, dann will ich gern zugrunde gehn.«
Adorno und Freud sehen in dieser Geschichte das Wesen der menschlichen Kultur aufblitzen, dieser ständigen Suche nach einem Kompromiss. Stehen dafür nicht der wilde Arthur Rimbaud oder der wahnsinnig gewordene Hölderlin ein? Oder ist es das gut betuchte Paar im Foyer der städtischen Oper, das diese Kultur liefert? Aber da gibt es ja noch die Gefährten des Odysseus, die sich, als sie an den Sirenen vorbeifahren, die Ohren mit Talk zustopfen. Offensichtlich sind diese Verweigerer des Absoluten nicht zur Hoch-Kultur gehörig – eher blinde Passagiere, die nur auf Lebenserhalt getrimmt scheinen, wie im Narrativ von Corona einmal mehr nachgewiesen ist. Man kann sich fragen: Welche Kulturvariante ruft mehr Ekel hervor: die der Kulturschickeria, die Leiden und Leidenschaft in kleinen Dosen zu sich nimmt oder die der Masse, die das Leben systematisch verstopft? Faustisch sind sie beide nicht. Dagegen sei noch einmal Goethe zu Rate gezogen: »Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet.«
Ist in naher Zukunft eine Wissenschaft vorstellbar, die nicht direkt machtpolitisch instrumentalisiert werden könnte, ja, die auf Grund revolutionär neuer Erkenntnisse den Impuls für eine allgemeine humane Entwicklung böte? Könnte diese Wissenschaft in einer Krisensituation einen Wendepunkt darstellen, ja selbst zum Zentrum des Widerstands gegen herrschende Formen der Dehumanisierung werden? Zur Zeit sieht es danach nicht aus. Gab es so einen Turn around überhaupt jemals in der Geschichte? Am Ende des Mittelalters entdeckte der Forscher Isaak Newton die Gesetze der Mechanik als eine Art Befreiung. Besonders folgende Erkenntnistrug dazu bei: Eine Kugel, die von einer schrägen Ebene auf eine gerade Ebene rollt, behält von da an die gleiche Geschwindigkeit bei. In diesem Phänomen der konstanten Beharrung erspürt nun Newton eine existentielle Antwort auf die religiöse Krise seiner Zeit. Es ist eine Zeit in Aufruhr: Das aristotelische Weltbild bröckelt. Besonders eine Frage drängt sich auf: Wer ist Gott, wenn er nach Kopernikus‘ Entdeckung des Kosmos in der Unendlichkeit des Raums verschwindet, wenn er gar als Schöpfer allen Seins das Böse zulässt?
Konstante Beharrung
Folgt man den Gedanken des Philosophen Hans Blumenberg, so war es damals die Physik, die mit ihren unbestreitbaren Gesetzen die Tore zu einer neuen Selbst- und Weltdeutung aufschloss und so auch für die Legitimität der Neuzeit sorgte. Sie musste sich damals behaupten gegen den Ideenwirrwarr des Mittelalters. Führt uns diese Spekulation nicht in die Wirrnisse der Tagesaktualität, aber in verkehrter Richtung: Die Wissenschaft generiert inzwischen Erkenntnisse, die – so etwa im Fall der Virologie – in ihrer technokratischen Verengung alle befreiende Kraft einbüßen. Geradezu naiv und veraltet wirken da heute die Reinheitsgebote, die ein Karl Popper und ein Jürgen Habermas für die Wissenschaft einfordern: eine Versuchsanordnung für Wahrheit zu sein. Schön eingehegt disputieren – lohnt das überhaupt noch? Währenddessen fährt der Zug in die real drohende Dystopie weiter. Dabei hätten gerade Wissenschaften wie die Virologie oder die Genforschung das Potential für eine epochale Wende, die sich am Wert des geglückten Lebens orientiert. Wird hier nicht eine Chance vertan? Ich erwog, was ich sei. Da bot sich mir dar, dass ich ein Gesicht, Hände, Arme und diese ganze Gliedermaschine hatte, die man auch an einem Leichnam wahrnimmt. Und das Denken? – Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden: ich bin, ich existiere, ich bin nur ein denkendes Ding.« Soweit René Descartes recht abschätziges Urteil über alles, was nicht denkt. In provokanter Manier wendet sich der Schöpfer der modernen Philosophie gegen die Auffassung, dass etwa der menschliche Körper irgendeine Rolle spielt, wenn es um die nackte Identität des Ich geht. Letztlich wird selbst der Tote als bloße Gliedermaschine ausgewiesen, über der einsam das Cogito, das denkende Ich, trohnt? Wer die Moderne in ihren anmaßenden Zügen verstehen will, sollte sich in dieser Angelegenheit mal an Michel Foucault wenden.
Organsack Mensch
Foucault zeichnete ein anderes Bild als Descartes. Währender im Diskurs der Moderne im denkenden Ich eine eher zu vernachlässigende Größe vermutet, setzt er die Geburt der modernen Ich-Identität dort an, wo die Medizin auf den Plan tritt – nämlich in den Kellern der Pathologie, wo menschliche Leichenteile dem »Haifischblick« der Sezierer und Analysten ausgesetzt sind. Foucaults These dazu: Die Geschichte der Medizin ist gleichzeitig die Geschichte der modernen Ich-Bildung und damit unserer Vorstellung von uns selbst. Auf dem Seziertisch der Pathologie wurde der Tod nicht nur zum Lehrmeister der Mediziner, sondern zum Leitbild des Lebens und unseres Bewusstseins. Die Differenz, die sich seither auftut: Tod bedeutet, die Organe funktionieren nicht mehr. Leben und Individualität werden von diesem negativen Befund abgeleitet: Siefunktionieren vorläufig noch. Aber nicht mehr lange. Leben erweist sich als eine Krankheit zum Tode. In dieser beunruhigenden Vagheit verliert das Leben seinen ursprünglichen Sinn und lässt uns mit einer Panik verbreitenden Maxime zurück: Wir müssen unbedingt unser Leben verlängern. Sonst haben wir nur das Schicksal in leblose Organe zu wechseln vor uns. Selbst unsere Individualität entsteht nicht aus uns selbst, sondern wird uns aus der Pathologie vorgegeben. Wer heute Ich sagt, bezieht sein Selbstbewusstsein aus seiner Rolle als Patient und Bewohner im Vorraum des Todes. Wie kommt es, dass mich diese philosophische Spekulation einmal mehr zu der Frage drängt: Was geschah mit uns in den letzten Jahren. Zumindest mentalitätsgeschichtlich? Dazu wäre noch so vieles zu sagen.
Ästhetik des Widerstands
Braucht nicht jeder politische Widerstand eine Ästhetik? Sie erst verschafft uns eine Ahnung davon, was als zu erreichendes Ziel des Widerstands möglich wäre: nämlich ein geglücktes Leben. Ansonsten bliebe Widerstand in den starren Musterndes Erfolgs befangen, nicht in der Lage, die Dialektik von Macht und Ohnmacht wirklich zu durchbrechen und die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen –was vielleicht kurzzeitig geschah, als vor ein paar Jahren das Danser encore urbane Plätze in ganz Europa zum Schwingen brachte. »Leben«, so sah es Paul Nizan,»erscheint nur möglich als Widerstand«. Diese bittersüße Wahrheit scheint allerdings im Konformitätswahn der letzten Jahre verloren gegangen zu sein. Wer sagt noch Nein, wo der kollektive Druck zum Ja immer weiter ansteigt. »Keiner sagt etwas, das nicht ebenso alle sagen könnten. Schaden nimmt dabei die Begabung, dagegen zu sein«, so Botho Strauss. Setzt indes Widerstand zu leisten eine Begabung voraus oder lässt sich dies antrainieren?
Drei Einwürfe dazu: Die Kölner Edelweiß-Piraten, eine Gruppe von Jugendlichen im Widerstand gegen Hitler, wurden kurz vor Kriegsende von den Nazis hingerichtet. Sie galten als Kleinkriminelle, die vielleicht gerade deshalb einen Sinn für Widerstand entwickeln konnten. Der Schriftsteller Hans Ulrich Treichel wurde 2020 gefragt, wie er den staatlich angeordneten Lockdown ertrage: Ja, der sei kaum auszuhalten, so Treichel, deshalbfiebere er der Impfung entgegen. – Zeigte sich Treichel mit diesem Wunschnach Erlösung nur als naiv? Ich kann seine Romane jedenfalls nicht mehr lesen. Mit seinem 1981 veröffentlichten Roman Ästhetik des Widerstands wollte Peter Weiss die moderne Kunst mit der Arbeiterbewegung versöhnen. – Sicherlich auch naiv. Allerdings lohnt es sich, Peter Weiss zu lesen. Schon wegen dieser Episode: Am Pergamon-Tempel auf der Museumsinsel in Berlin sieht Weiss ein Steinrelief, auf dem die Niederlage der aufbegehrenden Giganten gegen die Götter dargestellt wird. Er findet dazu diese Worte: »Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt.« – Berührend schön diese Sätze!
HINWEIS: »Aber es gibt Menschen, die sich dem Wahnsinn entgegenstellen. Werner Köhne ist einer von Ihnen«, so Gabriele Gysi im Vorwort »Zur Ästhetik des Widerstands«. Es ist das dritte Buch, dass der Philosoph Werner Köhne im Sodenkamp & Lenz Verlagshaus veröffentlich. Voran gegangen sind der Essay-Reigen »Minima Mortalia« (2020) und der Gedichtband »Die Corona-Litanei – Gedichte gegen die verordnete Verödung des Lebens« (2022). Alle Bücher sind direkt beim Verlag unter demokratischerwiderstand.de oder im Buchladen des Vertrauens erhältlich. – Köhnes Werk ist bleibend.