Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Haldenwang,
zunächst darf ich mich vorstellen: Ich heiße Martin Schwab und bin Professor an der juristischen Fakultät der Universität Bielefeld. Ich bin dort Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Verfahrens- und Unternehmensrecht. Diesen Brief schreibe ich Ihnen allerdings selbstverständlich als Privatmann, ohne jeglichen dienstlichen Bezug.
Ich möchte Sie auf einen Bericht im Pleite-Ticker vom 2. Mai 2023 aufmerksam machen. Der Pleite-Ticker ist ein Blog, der von der Rome Medien GmbH in Berlin betrieben wird. Geschäftsführer ist der frühere BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. Der Bericht, den ich Ihnen vorstellen möchte und den ich als Word-Dokument mit URL und Abrufdatum diesem Schreiben beifüge, trägt den Titel: »Manipuliertes skandal- [richtig: Skandal-]Video zu Polizeigewalt: MDR gesteht bedauerliches Missgeschick.«
Der Bericht setzt sich mit einem Video auseinander, das einen Polizeieinsatz gegen einen Klima-Kleber zeigt. Auf dem Originalvideo kann man hören, dass der Aktivist, gegen den sich der Einsatz richtet, in der Lage ist, mit den Beamten zu sprechen. In der vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) gezeigten Video wird diese Sequenz mit angeblichen Schmerzensschreien des Aktivisten übertönt. Beim Betrachter des MDR-Videos entsteht auf diese Weise der Eindruck als seien die Polizeibeamten mit rücksichtsloser Brutalität gegen den Aktivisten vorgegangen.
Der MDR hatte dem Bericht zufolge zunächst die Manipulation des Originalvideos abgestritten, musste aber, nachdem der Pleite-Ticker erstmals öffentlich über den Vorfall berichtet hatte, einräumen, dass die Schmerzensschreie eben nicht Bestandteil des gefilmten Original-Geschehens waren. Der MDR stellt die Manipulation nunmehr als Versehen dar: »Nach Durchsicht aller MDR-Veröffentlichungen zu dem Thema ist uns bei dem Short auf Youtube beim Abmischen der Tonspur ein unerklärbares bedauerliches Missgeschick passiert.«
Der MDR entschuldigte sich und nahm das manipulierte Video – das mittlerweile millionenfach angeklickt worden war – vom Netz. Weitere Bemühungen, den unrichtigen Eindruck eines übermäßig brutalen Vorgehens der Polizei zu zerstreuen, unternahm der MDR offenbar nicht – jedenfalls wurden solche Bemühungen nicht öffentlich berichtet.
Nach meinem Eindruck wirkt der Versuch des MDR, die Manipulation als Versehen darzustellen, wenig glaubhaft angesichts der Tatsache, dass der MDR zunächst die Veränderung des ursprünglichen Videos in Abrede gestellt hatte. Und es sind beim MDR auch keinerlei Bemühungen erkennbar, dem falschen Eindruck, den Millionen Betrachter von der Arbeit der Polizei vermittelt wurde, zu korrigieren. Mindestens derartige Bemühungen hätte man indes erwarten dürfen und müssen, wenn es dem MDR wirklich ein Anliegen gewesen wäre, die selbstverursachten Missverständnisse auszuräumen.
In meinen Augen verwirklicht das Verhalten des MDR im hier beschriebenen Fall sämtliche Merkmale des Phänomenbereichs »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«, den das Bundesamt für Verfassungsschutz im Frühjahr 2021 neu einführte: Eine wichtige Institution unseres Rechtsstaats, nämlich die Polizei, wird mithilfe von konstruierten, offensichtlich haltlosen und böswillig in die Welt gesetzten Vorwürfen verächtlich gemacht, um das Vertrauen der Menschen in eben diese
Institution zu destabilisieren.
Ich bitte Sie daher, beim MDR eine Untersuchung einzuleiten. Die halbherzige Reaktion des MDR auf den Bericht im Pleite-Ticker vom 2. Mai 2023 zeigt deutlich, dass der MDR keinerlei eigenen Antrieb verspürt hat, den von ihm verursachten unrichtigen Eindruck von der angeblichen Polizeigewalt gegen Klimaaktivisten zu zerstreuen. Offensichtlich hätte der MDR die Manipulation des Videos am liebsten zur Gänze vertuscht und das manipulierte Video noch länger online gelassen. Das Verhalten des MDR ist nicht das einer an Wahrheitsvermittlung interessierten Sendeanstalt, sondern das eines ertappten Straftäters, der die Tat nicht mehr verbergen kann und nun mühsam versucht, wenigstens den eigenen Vorsatz zu verschleiern. Es steht daher zu befürchten, dass der MDR bei nächster Gelegenheit zu ähnlich irreführender Berichterstattung greifen wird und die Polizei dann abermals zu Unrecht in ein schlechtes Licht gerückt wird.
Es liegt jetzt an Ihnen und Ihrer Behörde, derartigen Fehlentwicklungen entschlossen entgegenzutreten. Von Ihrer Reaktion auf diesen Brief hängt ab, ob der Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« wirklich mit dem Ziel eingerichtet wurde, die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates vor ungerechtfertigtem Vertrauensverlust zu schützen, oder ob es sich aber bei diesem Phänomenbereich um das handelt, was Kritiker von Beginn an befürchtet haben – um ein Machtinstrument, um Kritik an der Regierung zu unterdrücken . Mein sehr geschätzter Freiburger Kollege Dietrich Murswiek hat in seinem instruktiven Beitrag »Wer delegitimiert hier wen?« auf Legal Tribune Online vom 24. November 2022 – ebenfalls mit URL und Abrufdatum hier beigefügt – darauf aufmerksam gemacht, dass Kritik an der Regierung mit Kritik an der Verfassung verwechselt wird.
Ich bitte Sie, mir bis Freitag, den 21. Juli 2023, mitzuteilen, ob Sie die von mir angeregte Untersuchung eingeleitet haben.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Martin Schwab