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Der Narzisst, oder

Die Sphinx von Düren

Ein Psychogramm des Karl Lauterbach

Von Werner Köhne

Er, Karl Lauterbach, muss gespürt haben, das da etwas aus dem Lot zu geraten droht. Der Krieg in der Ukraine überlagert denn auch seit Monaten sein ureigenstes Thema, ja seine Berufung. Die Pandemie ist spürbar aus den öffentlichen Schlagzeilen geraten; die wichtigste Währung, nämlich die Aufmerksamkeit, gilt anderen Ereignissen.

Die gelegentlichen Warnungen des hageren Mannes, der in der Hitze des Sommers noch mehr als sonst einem Asketen gleicht, werden allenfalls müde zur Kenntnis genommen – wenn sie nicht als Überzeichnungen und Routineverlautbarungen abgetan werden. Selbst von der Bildzeitung werden seine Kassandrarufe höhnisch und gereizt als Schrullen eines Besessenen betrachtet. Was will der Kerl denn nun schon wieder!

Da galt es für den Gesundheitsminister Lauterbach, sich etwas zurückzunehmen, wo Tote, Panzerhaubitzen und eine andere Gefühlsgrammatik das Seelenleben der Nation regieren und die Norm vorgeben für eine immerwährende Krisensituation. Der Überminister Lauterbach musste einstecken: Das Gespenst der Inzidenz schaffte es in den zurückliegenden Monaten nicht, gegen die Bilder aus dem Donezkbecken: Weite Flächen dort mit Rost ansetzendem Kriegsgerät, ausgebrannten Häusern, und gelegentlich auch Leichen am Straßenrand.

Das sind Kriegsbilder, also kollektiv gespeichertes Gedächtnis. Aber das allein hätte nicht ausgereicht, um Karl Lauterbach in Zugzwang zu bringen. Selbst dann nicht, als er diese skurrile Bemerkung nachschob: Er glaube, dass die nun wieder ansteigenden Corona-Zahlen auch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hätten, denn dadurch lasse die Konzentration auf Corona nach. Also seid wachsam zu jeder Stunde. Ja, so brütet Lauterbach kausale Zusammenhänge aus, wenn sie im Dienst einer übergeordneten Sache stehen müssen.

Aber es gab da ja auch noch mehr zu befürchten für einen, der alles gern unter dem Dach Corona versammelt. Mehr noch als die Bilder aus der Ukraine, hatte er mit den Folgen der Sanktionspolitik nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine zu kämpfen. Der abrupt unterbrochene Fluss der Energie riss – seien wir ehrlich – noch größere Löcher in die Gemütslage der Nation. Ein Winter womöglich in Kälte zu verbringen mit schmalem Portemonnaie, weil die Gaslieferungen ausbleiben: Das lässt deutsche Seelen noch mehr zusammenzucken als Leichen am Straßenrand.

Aber hier erhebt sich auch eine Chance für Karl L., der Sphinx aus Düren. Der Herbst naht bekanntlich und bietet in seinen Wetterkapriolen eine Chance für eine Auffrischung des Corona-Szenarios. Der Finger darf wieder warnend erhoben werden, die Inzidenz steigt. Die Maskenpflicht in Innenräumen sollte also bald wieder anberaumt werden, und natürlich steht die vierte Impfung oder ein zweites Boostern an – oder was auch immer am Hin und Her, Auf und Ab der Maßnahmen und Regelungen. Wer kennt sich da noch aus?

Ich fürchte, Karl Lauterbach glaubt genau dies von sich selbst. Er kennt sich aus, der Meister des Corona-Wissens. Immerhin in einem kann sich der prophetische Mahner fast sicher sein. Im Rahmen einer Geschichte der Gefühle hat das nun zweieinhalb Jahre währende Corona-Szenario tiefe Kerben hinterlassen. Sehr tiefe. Und es steht zu befürchten, dass die Langzeitfolgen sich erst noch zeigen werden in Form von Bruchstellen in unserer Identität – dem Bewusstsein von uns selbst, unserem Körper und von der Welt. Es stehen uns Deformationen ins Haus, die sich als schwerwiegender herausstellen werden als die Folge konventioneller Kriege. Haltungen, Gefühle und eine schwer auszulotende Moral gehen inzwischen in das ein, was man früher mal German Angst genannt hat – eine Krankheit, die sich durch Corona deutlich verschlimmert hat und uns zu Dauerpatienten macht. Um es noch einmal zusammenzufassen: Auf einer Skala, in der Turnarounds in der Mentalitätsgeschichte angezeigt werden, spielt das Coronaszenario eine größere Rolle als diese so unbestimmbare und doch nachhaltig wirkende Angst.

BILDER UND SZENEN ZU KARL LAUTERBACH

2019 bewirbt sich unter vielen anderen Kandidaten auch das Duo Karl Lauterbach und Nina Scheer in einer Vorauswahl für den Parteivorsitz der SPD. In einem Video stellen sich die beiden einem breiteren Publikum vor. Sie sprechen dabei abwechselnd von sich und ihren politischen Zielen. Von heute an mutet seltsam an, wie breit und letztlich nichtssagend der als soft links eingestufte Politiker Lauterbach sein Programm damals auffächert: Es geht ihm um soziale Gerechtigkeit, um Bildung, natürlich um Umweltschutz. Die Gesundheitspolitik wird von ihm dabei nur kurz gestreift.

Auf Regionalkonferenzen zur Kandidatenauslese kann der hagere Mann mit Fliege und drögem, monoton grundiertem rheinischen Akzent nicht wirklich punkten. Als Politiker zu wenig den Erfordernissen der Symbolpolitik gewachsen, wirkt er im ganzen Habitus beinahe hilflos, staksig; als populistischer Menschenfänger kann er nun schon gar nicht auftreten. Und geradezu kindisch kommt es herüber, wie er seine Mitbewerberin Nina Scheer von der Seite anschaut, wenn diese spricht – so als sei er dazu verdonnert worden, ihr mit Hundeblick beizustehen. Ist er gar im falschen Film?

Wie willst du mit so einem Politik machen, dachten sich wohl auch die Mitglieder und Delegierten, die ihn bei dieser Vorauswahl auf die hinteren Ränge verwiesen. Wie ein verblüffter Pennäler, der einstecken muss, nimmt Lauterbach seine Nichtwahl entgegen. Die Scheinwerfer schienen nie auf ihn gerichtet Es war überhaupt alles andere als eine Sternstunde der Demokratie, dieses SPD-Ausleseprojekt. Zehn Bewerber zeigen sich schließlich auf der Bühne – eine Laienspielschar, aus der dann aber, so wollte es der Zeitgeist, innerhalb kürzester Zeit eine Regierung wachsen sollte, die sich als besessene Exekutive erwies. Dazu bedurfte es wohl eines plötzlichen Einbruchs in das Gefüge der Realität – und gewisser Phänotypen der Stunde, die ein entstandenes Vakuum ausfüllen konnten.

Der Kandidat Lauterbach damals also noch ohne Chance – aber mit einer Vorgeschichte. Um diese geht es, als Karl Lauterbach nach seinen ersten großen Erfolgen in einer Talkshow auf Servus-TV zum Thema des Abends gemacht wird. Inzwischen ist er wer. Noch kein Gesundheitsminister, aber der gewichtigste Sprecher der SPD in Sachen Corona. In dieser Talkshow kommt seine frühere Ehefrau zu Wort, eine Epidemiologin, mit der er gemeinsam in Harvard studiert hat. Der Moderator fragt sie nach dem Studium an diesem geheiligten Ort des Wissens damals und wie sie den Epidemiologen Karl Lauterbach kennengelernt habe.

Darauf entgegnet sie, dass er eigentlich kein Epidemiologe sei, sondern sein Studium in Public Health absolviert habe, in der Disziplin Gesundheitsmanagement. Der Moderator überhört quasi diesen wichtigen Einschub – aus welchen Gründen auch immer – und es behagt dem Gesprächsleiter auch nicht, in welcher ruhigen Art sie dies tut. Man ist einer Regie verpflichtet, die duldet keine Überraschungen. So fällt er ihr fortlaufend ins Wort. Wir erleben hier ein Beispiel für einen damals systemisch betriebenen Ausverkauf der Diskurskultur – hundertfach praktiziert in diesen unsäglichen Talkshows.

Schließlich kommt sie trotz Dazwischengequatsche dazu, für zwei Minuten ihre Forschungsergebnisse und Einschätzungen zu Covid-19 dem Publikum vorzustellen. Mit großem Bedacht. Selten habe ich bis dahin so eine kluge Situationsbeschreibung vernommen. Die Frau, die mit Lauterbach vier Kinder hat und die sich schon 2004 von ihm hat scheiden lassen, versteht etwas vom Fach, hat Epidemiologie studiert und ist auch in der Lage, Kontexte sozialer, psychologischer und körperlich-physischer Art in ihre profunde Analyse einfließen zu lassen. Lauterbach sei ein echter Narzisst. Und man kann sich fragen: Warum ist diese sympathische Frau nicht später und andernorts noch öfter zu Wort gekommen?

Es sollte nicht sein, und es durfte wohl auch nicht sein. Festzuhalten bleibt, dass allein diese Episode zeigt, wie das Corona-Szenario funktioniert und warum der schüttere Karl Lauterbach gerade vor diesem Horizont von Irrungen und Verwirrungen auf der Karriereleiter aufsteigen konnte. Er wird ja als Gesundheitsmanager reüssieren – fachlich also nicht als Virologe oder Epidemiologe. Aber das tut in jenen Tagen nichts zur Sache.

Kompetenzgehabe und Fakten erfahren in dieser Zeit eine merkwürdige Verschränkung, die letztlich im Glauben endet, aber von einem kleinen Kreis von Machern mit sicherem Machtinstinkt inszeniert werden. Zu diesem kleinen Kreis gehörten damals ein Herr Wieler, ein Herr Drosten, ein Herr Spahn und natürlich eine Kanzlerin. Sie füllten eine Agenda mit Leben – der eine grob (Wieler), der andere verrätselt genialisch (Drosten), ein weiterer als blanker Manager von »egal was« (Spahn), und die »Unvermeidliche« im Gestus der Bedachtsamkeit (Merkel). Sie alle sind inzwischen von der Bühne abgetreten. Wer blieb, war: Karl Lauterbach.

Wer das Corona-Szenario verstehen will, muss die Grundform in all dem erkennen – sozusagen die Matrix: Es geht um die kultische Überhöhung einer Krise zu einem Daseinsentwurf, in dem, von oben verfügt, alles möglich wird.

DAS DRÖGE UND DAS KASSANDRAARTIGE

»Wir wollen Karl.« So tönte es vor der Bundestagswahl nicht nur von Anhängern aus seinem Wahlbezirk. Karl Lauterbach als Nachfolger des von der Bank zum Gesundheitsmanager konvertierten Spahn schien der Phänotyp der Stunde. Mit mehr als 45 Prozent der Stimmen für den Wahlkreis Leverkusen/Köln-Mühlheim konnte auch Olaf Scholz seine Popularität nicht länger ignorieren, und machte den ansonsten eigentlich als Exzentriker verschrienen Genossen zum Gesundheitsminister. Lang zuvor war der Pendler von der CDU zur SPD »Direktor und Mitglied eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen« gewesen. In der stocksteifen Nomenklatura ist schon vorgegeben, dass da wenig Spielraum gelassen wird für Kreativität.

Nicht zufällig, dass Karl Lauterbach diese Kreativität weitaus besser auf Twitter auslebt – was ihn hier in die Nähe von Donald Trump rückt. Offensichtlich verfolgt er instinktsicher über dieses Medium eine Gemeindebindungspolitik. Er praktiziert an all den staatlichen Stellen und Vermittlungen vorbei. Dem scheint allerdings zu widersprechen, dass seine Twitter-Beiträge oftmals nicht missionarisch auftrumpfen, sondern bürokratisch dröge und skizzenhaft daherkommen. So twittert er dann in diesem Stil: »Verbot Privatparties ohne Maske – Obergrenze Feier 50 Leute.«

Funktioniert so Politik – oder nur eine Politik im freien Fall? Eröffnet sich so der Turnaround von der klassischen Symbolpolitik hin in eine der Klicks und Likes? Wie viele Follower hat Karl Lauterbach heute vorzuweisen?? – Über eine Million! Was ist da los – noch bevor Realpolitik eingreift oder Wirklichkeit überformt wird von den gut gemeinten Fetischen unserer Zeit: Es geht um eine Authentizität, die als Performance umgesetzt wird?

Dies ist ein Widerspruch, der aber heute akzeptiert wird. Gerade vielleicht von Jugendlichen, die es krass »krank« finden, wie der Schlacks aus NRW auftritt, wie er Widersprüche, Behauptungen und Rücknahmen in sich einspeist und dabei irgendwie cool bleibt. So durchstreifen Jugendliche die Konsummeilen der Stadt in einem spätmodernen Stoizismus, mit der Maske ein Label vor sich hertragend, das ihnen locker-flockige Identität garantiert oder auch ein wenig Flirt mit der Panik – is’ doch klar – auf der Andrea Doria. Lauterbach: »Oh mein Käpt’n, mein Käpt’n.«

DER ZUR WAHRHEIT ERHOBENE WIDERSPRUCH – SYMBOLPOLITIK AM ENDE?

Die Taz sah 2020 in Karl Lauterbach die liebenbenswerteste Kassandra unter all den anderen – und verband das mit der Frage: Soll man auf ihn hören? Der Mann schien in den letzten zwei Jahren irgendwie omnipräsent. In einer einstündigen ARD-Dokumentation zu Karl Lauterbach kommt ein Freund zu Wort, der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre. Der hat Lauterbach aus früheren Jahren als chronischen Außenseiter in Erinnerung, der durch die Pandemie ins Zentrum des Geschehens katapultiert worden sei. Man könne das als eine amerikanische Story interpretieren – so der Schriftsteller –, wie da jemand vom Würstchenverkäufer zum Präsidenten aufsteigen könne.

Ist Lauterbach also das Arbeiterkind, das vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigt? – Nein, dazu ist er zu deutsch. Die Story müsste also hier stark modifiziert werden. Hier in Deutschland, dem eisernen Kernland der Pandemie und der Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands und der Impfpflicht, dominiert ein anderer Zeitgeist als in den USA. Er bringt auch andere Protagonisten für dieses Story Telling hervor. Am besten gedeihen diese dort, wo eine Großkrise die andere jagt und urdeutsche Communities sich unter dem Banner eines Führers versammeln.

EIN PHÄNOTYP IM SOZIOTOP UNSERER ZEIT

Lauterbach der Starrsinnige, Verbissene, der gelegentlich auch Arrogante. Welches Bild liefert er im Corona-Reigen noch? In einigen Westernfilmen reitet ein Gottgesandter durch die Prärie auf eine Stadt zu, wo er offensichtlich ein Werk zu verrichten hat. Es kann sich um einen Pastor, einen Richter oder gar einen Scharfrichter handeln, der fortlaufend aus der Bibel zitiert. Er kann Urteile fällen, er kann sie auch exekutieren. Er ist skurril, aber wird gefürchtet und manchmal bietet er uns ein Bild zwischen Clown und Henker, der selbst den klassischen Western in den Schatten stellt.


Der Philosoph Werner Köhne ist Dokufilmer und Radiomacher (arte, WDR). Von Dr. Werner Köhne erschien zuletzt das Werk »Minima Mortalia«, S&L Berlin 2020 (ISBN 9783982274508)





Dieser Text erschien in Ausgabe N° 108 am 14. Okt. 2022




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