Es ist eine altbekannte Weisheit, dass man als Berufspolitiker vor allen Dingen über viel Sitzfleisch verfügen muss. So wollten die Mitglieder der Ampel-Regierung eigentlich am Samstag, dem 3. September zügig ihr angekündigtes Entlastungspaket vereinbaren.
Ministerialbeamte und Chefberater von Scholz, Habeck und Lindner hatten alles perfekt vorbereitet. Und dann saßen die Politiker doch tatsächlich bis am frühen Sonntag um sechs Uhr, bis sie ihr neuestes Meisterwerk der Öffentlichkeit präsentierten. Der Meister lobt sein Werk. Lobt das Werk auch den Meister?
Darüber wird seitdem gestritten. Die Regierten ächzen laut und vernehmlich. Strom- und Mietnebenkostenrechnungen werden unter wildesten Verfluchungen zerknüllt und auf den Boden geschleudert. Die Preise für Lebensmittel und Energie krachen durch die Decke. Dass der böse Putin schuld sein soll, glaubt sowieso keiner mehr. Die Straßen füllen sich schon wieder mit Protestierenden. Erinnerungen an den letzten Demo-Winter werden wach. Es gibt also gute Gründe, die aufgebrachte Menge zu beruhigen.
ZIELRICHTUNG:
»BÜRGERGELD«
Das jetzt verabredete Entlastungspaket soll die geschröpften Bürger um 65 Milliarden Euro entlasten. Zum Teil gibt es Geld auf die Hand. Zum anderen werden Steuern gesenkt. So gibt es einmalig 300 Euro aus Bundesmitteln für Rentner. Studenten können sich auf Cash in Höhe von 200 Euro freuen. Allein diese Bonbontüte macht in der Summe sechs Milliarden Euro. Und dann soll es doch sage und schreibe 18 Euro mehr Kindergeld geben! Bis jetzt sind 700.000 Bundesbürger berechtigt, Wohngeld zu erhalten. Diese Zahl wird auf zwei Millionen Empfangsberechtigte erhöht. Und jeder von diesen Glücklichen erhält wiederum einmalig 415 Euro. Hartz IV-Empfänger bekommen statt wie bisher 449 Euro im Monat nun tatsächlich 500 Euro. Irgendwann soll es dann ja sowieso statt der kollektiven Ver-Hartzung eine neue Lohnersatzleistung mit dem unverfänglichen Namen »Bürgergeld« geben. Wann das kommen wird, steht noch in den Sternen.
Wer noch einen Arbeitsplatz sein Eigen nennt, kann sich auf eine Senkung seiner Sozialbeiträge freuen. Und noch eine gute Nachricht für abhängig Beschäftigte: Bisher hat sich so manch ein Arbeitnehmer schwarz geärgert, wenn er nach mühsam erkämpfter Lohnerhöhung feststellen musste, dass er jetzt unter dem Strich weniger verdient als vor der Lohnanhebung. Denn er wird jetzt mit seinem nominell höheren Lohn auch noch höher besteuert. Das nennt man »kalte Progression«. Das soll jetzt nach dem Willen der Bundesregierung eingedämmt werden. Dieser noble Verzicht auf die kalte Progression spült eine Summe von 12,4 Milliarden Euro in den virtuellen Lohntüten der Arbeitnehmer.
Die verunsicherten Stromkunden sind auch nicht vergessen worden. Da wird in den Medien das Wort »Strompreisbremse« kolportiert. Tatsächlich soll für den Basisverbrauch an Strom ein vergünstigter Tarif gelten. Der Anstieg der Netzentgelte soll gedeckelt werden. Also das Geld für den Transport des Stroms vom Erzeuger durch Kabel an die Steckdose der Endverbraucher. Der macht allerdings nur etwa ein Viertel des Endpreises für Strom aus. Auch den Öffentlichen Nahverkehr sollen sich die Leute draußen im Lande weiterhin leisten können. Denn das 9-Euro-Ticket für die drei Sommermonate wurde vom Publikum freudig angenommen und eröffnete mittellosen Mitbürgern eine bis dato ungekannte Beweglichkeit. Doch das neue, dann dauerhafte Ticket für den ÖPNV soll zwischen 49 und 69 Euro kosten.
WO SOLL DAS
GELD HERKOMMEN?
Doch auch für die Arbeitgeber soll etwas herausspringen. Wir lassen doch niemanden zurück. Zum Einen sollen die schon laufenden Unternehmenshilfen auch weiterhin verlängert werden. Auch Kurzarbeitergeld soll so großzügig gehandhabt werden wie zu den heißen Corona-Zeiten. Unternehmen, die besonders viel Energie für ihre Produktionsabläufe brauchen, sollen von zusätzlichen Hilfsprogrammen profitieren können. Hier fällt auch wieder das Zauberwort von den zusätzlichen Investitionshilfen. Gastwirte, die momentan händeringend Arbeitskräfte suchen, sollen eine ermäßigte Mehrwertsteuer zahlen. Statt 19 Prozent sind das dann 7 Prozent.
Wunderbar. Bundesfinanzminister Christian Lindner versichert hoch und heilig, dass für das 65-Milliarden-Wohltatenpaket kein Zusatzhaushalt nötig sei. Heißt: Er will mit dieser Erhöhung sich nicht erneut der umständlichen Prozedur einer Zustimmung im Bundestag aussetzen. Ob das wohl gutgeht? Die Opposition von CDU und CSU meldet schon mal Zweifel an. Nun soll der Bundesetat auch bloß 32 Milliarden Euro vom Entlastungspaket beisteuern. Wo die restlichen 33 Milliarden herkommen sollen, ist noch gar nicht geklärt. Einige der von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen fallen gar nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Vielmehr müssen Länder und Kommunen dafür aufkommen.
Entsprechend begeistert ist denn auch der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst von der CDU: »Wenn die Länder mit bezahlen sollen, müssen sie auch mitentscheiden können.« Scholz und Lindner denken sich das so, dass Länder und Kommunen im Endeffekt lediglich zwölf Milliarden Euro aufbringen müssen. Der Rest soll durch die Besteuerung von »Zusatzgewinnen« herbeigezaubert werden. Mit Rücksicht auf die Porsche-Fahrer in der Bundesregierung nimmt man das unschöne Wort »Übergewinnsteuer« lieber nicht in den Mund.
»Übergewinne« fallen an, wenn zum Beispiel an der Strombörse sich der allgemeine Verkaufspreis nach dem Preis für den am teuersten produzierten Strom richtet. Im Moment ist Strom, der aus Gas gewonnen wird, mit Abstand am teuersten. Für Strom, der aus billigerer Windkraft, Kohle oder Solar gewonnen wird, ergeben sich auf diese Weise vollkommen ungerechtfertigte Übergewinne. Das will man nun doch irgendwie deckeln. Wie das abgewickelt wird, ist aber noch vollkommen unklar.
KEINE ECHTE
ENTLASTUNG
Wie auch immer. Die Effekte für die unteren sozialen Schichten bleiben überschaubar. Die Anhebungen greifen für sie erst zum Jahreswechsel. Und wie Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes feststellt, garantieren die Entlastungen »nicht einmal einen Inflationsausgleich und sind deshalb überhaupt nicht akzeptabel.« Zudem beschleunigen die massiven Staatsausgaben seit Beginn der Corona-Kampagne, die in den Bereich von Billionenbeträgen von Euros reichen, kombiniert mit den permanent weiter heruntergefahrenen Steuereinnahmen die – vermutlich nicht gar unwillkommene – Ankunft der Staatsinsolvenz.
Die Unternehmensberatungsfirma Verisk Maplecroft sagt für den kommenden Winter eine »beispiellose Zunahme innerer Unruhen« für Deutschland, die Niederlande, Schweiz, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine voraus. Nur eine massive Reduzierung der Kosten für Lebensmittel und Industrie könne verhindern, dass die kommenden sechs Monate »noch disruptiver werden«.
Das Entlastungspaket der Bundesregierung doktert indes lieber ein bisschen an den Symptomen herum. Die wirkliche Ursache der Preisexplosionen, nämlich die skrupellose Ausnutzung einer Notsituation durch Zocker und Spekulanten an den Roulett-Tischen der internationalen Börsen, bleibt sauber ausgespart. Solange das so bleibt, sind soziale »Disruptionen« schwer zu vermeiden.