Wir sind noch dabei, die Horrorbilder des Krieges in der Ukraine zu verarbeiten. Da kommen schon die nächsten Horrorbilder aus Shanghai, einer Stadt, die sich gerade im Krieg gegen einen nur unter dem Mikroskop sichtbaren Feind befindet. Die chinesische Regierung führt einen aussichtslosen Kampf gegen das Corona-Virus, diesmal gegen die Variante »Omikron BA.2«.
Omikron ist das Auslaufmodell der Corona-Epidemie und dürfte auch bei Han-Chinesen kaum gefährlicher ablaufen als bei Zentraleuropäern. Dennoch bekommen die 25 Millionen Bürger der Handelsmetropole Shanghai strengsten Hausarrest aufgebrummt. Teilweise werden die Haustüren versiegelt. Da Bai verhaftet oder verprügelt Bürger, die sich trotzdem auf den Straßen Shanghais blicken lassen. Da Bai heißt: »Großer Weißer«. So nennt man die Polizisten, die bis zur Unkenntlichkeit in weißen Hygieneanzügen versteckt sind.
Um den dystopischen Horror zu vervollständigen, dappeln Roboter als Wachhunde mit umgehängtem Megaphon durch die Stadt und fordern die Bürger auf, die neuesten Verordnungen der Regierung zu beachten. Doch dieser Sterilitätswahn wird konterkariert durch himmelschreiende hygienische Defizite in den Sammellagern, wo jene bedauernswerten Mitbürger landen, bei denen der PCR-Test positive Befunde produziert hat. Da die in ihren Wohnungen eingesperrten Menschen sich kein Essen kaufen können, bringen ihnen Da Bais Essenspakete. Doch diese Gaben sind oftmals verdorben oder unsauber. Es ist klar, dass durch die vollkommen sinnfreien Corona-Schutzmaßnahmen mehr Menschen zu Tode kommen oder erkranken als durch das Omikron-Virus.
HALB CHINA
IM LOCKDOWN
Was Shanghai widerfährt, vollzieht sich in mehr oder minder abgemilderter Variante in 100 Städten der Volksrepublik China. 45 Großstädte befinden sich im Lockdown. Diese Städte repräsentieren 40 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Das Reich der Mitte ist viele Tausende Kilometer von uns entfernt. Doch im Zeitalter des Globalismus sind wir von der Lähmung der chinesischen Wirtschaft unmittelbar betroffen. Wenn Shanghai hustet, bekommt die Weltwirtschaft Lungenentzündung. Als im zweitgrößten Containerhafen Ningbo wegen eines einzigen Corona-Infizierten vor einem halben Jahr der Niederschluss verkündet wurde, stand der Container-Terminal still. Das machte sich sofort in Form von Lieferengpässen in Deutschland bemerkbar.
Sieben der zehn größten Containerhafen der Welt befinden sich in der Volksrepublik China. Der Containerhafen von Shanghai ist der größte der Welt mit einem Jahresumsatz von 43,5 Millionen TEU (Zwanzig-Fuß-Standardcontainer) im Jahre 2020. Die chinesischen Häfen beliefern die Welt mit allem, was die Menschen wirklich benötigen: Textilien, Werkzeuge, Baustoffe, Düngemittel, Autoteile. Der Containerumsatz ist zwar nicht vollkommen zum Erliegen gekommen, die Güterabfertigung ist aber bereits jetzt stark verlangsamt.
Shanghai beherbergt zudem die drittgrößte Wertpapierbörse der Welt, nach New York und London. Über 70.000 internationale Konzerne haben in der Stadt an der Mündung des Flusses Yangtse ein Büro. Der zweitgrößte Vermögensverwalter der Welt Vanguard wollte gerade sein Hauptquartier für Asien von Hongkong nach Shanghai verlegen. Die beiden Flughäfen von Shanghai sind die viertgrößten der Welt mit 122 Millionen Passagieren im Jahre 2019. Hier befinden sich auch die Joint-Venture Autofabriken von VW, General Motors, Tesla und Ford. Halbleiterfabriken und Pharmaunternehmen wie Astrazeneca oder Boehringer runden das Bild ab.
Wenn Shanghai gefesselt und geknebelt ist, kann uns das nicht egal sein. Die europäische Gemeinschaft in Shanghai ist genervt und hat, wie man hört, »gründlich die Schnauze voll von China« und will lieber gestern als heute für immer ausreisen. Dass die extremen Akte von Selbstzerstörung etwas mit dem Schutz der Gesundheit zu tun haben könnten, glaubt niemand mehr. Es ist auffällig, dass im Westen wenig über die Motive des staatlichen »Hooliganismus« spekuliert wird. Die Europäer vor Ort vermuten als Hintergrund einen Machtkampf.
GESUNDHEITSSCHUTZ
WIEDER NUR VORWAND
Demzufolge wolle der Maoist Xi Jinping, Staatspräsident Chinas, der kapitalistisch-dekadenten Metropole Shanghai mit ihren Partys und Diskotheken eins auswischen. Tatsächlich wird Shanghai unmittelbar von der Zentralregierung in Beijing kontrolliert. Und tatsächlich ist die Geschichte Chinas immer von einem Wechsel pragmatisch-behutsamer Phasen mit Phasen gigantischer Selbstzerstörung geprägt gewesen. Man erinnere sich nur an die Große Proletarische Kulturrevolution, mit der Mao Tse Tung seine Macht zurückeroberte, nachdem er durch den Großen Sprung nach vorn das Land in den Ruin geführt hatte. Oder die Ereignisse rund um den Tien An Men-Platz im Jahre 1989. Die Machtkämpfe nahmen keine Rücksicht
auf Verluste in der Bevölkerung. Auch die Gefahr durch Interventionen anderer Staaten hinderte die chinesischen Kontrahenten nicht daran, sich bis zur Selbstzerstörung zu zerfleischen.
Machtkämpfe innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei Chinas sind normal. Ob es die Maoisten noch gibt, ist unklar. Aber mit Sicherheit gibt es noch Fundamentalisten, die sich um Xi Jinping scharen. Ihnen stehen die Pragmatiker in der Nachfolge von Deng Hsiao Ping, der die Volksrepublik faktisch von 1979 bis 1997 regierte, gegenüber. Xi Jinping möchte sich im Herbst auf dem Parteitag der Kommunisten zum dritten Mal zum Großen Steuermann wählen lassen. Da muss er gute Bilanzen vorweisen. Das sieht jetzt aber gerade ziemlich schlecht aus, dank der strengen Restriktionen. Das Ziel von 5,5 Prozent Wirtschaftswachstum für 2022ist schon jetzt Makulatur. Allein in diesem Jahr drängen elf Millionen
Studienabsolventen auf den chinesischen Arbeitsmarkt. Warum also dieser Selbstmord?
Der Wirtschaftsjournalist Ernst Wolff stellte bereits vor dem erneuten Lockdown-Wahnsinn fest, dass es in China einen Machtkampf zwischen der Elite der kommunistischen Partei (KP) und den neu entstandenen chinesischen IT-und Finanzkonzernen gäbe. Die Letzteren seien den Parteikadern als potentielle Gegenspieler zu mächtig geworden. Deswegen hätten sie nichts unternommen, um dem hoffnungslos überschuldeten Immobilienriesen Evergrande unter die Arme zu greifen. Und dann hat ein KP-Funktionär beim International Finance
Forum in Beijing im Jahre 2021 durchblicken lassen, dass die digitale Währung Chinas, der e-Yüan, nicht über einheimische Netzwerke laufen solle, sondern über »Diem«, also einem Unternehmen unter der Kontrolle des amerikanischen Facebook-Inhabers Mark Zuckerberg. Die KP Chinas habe sich mit den angloamerikanischen IT- und Finanzkonzernen gegen die eigenen IT- und Finanzoligarchen verbündet.
KOMMUNISTEN WOLLEN
TOTALE UNTERWERFUNG
Wie auch immer. Tatsächlich haben die Kommunisten in Beijing schon lange die chinesischen IT-Konzerne auf dem Kieker. Diese werden ausgebremst mit immer kleinlicheren Restriktionen. Die zehn größten IT-Konzerne haben dadurch bereits jetzt einen Wertverlust von 1,7 Billionen Euro hinnehmen müssen. Auch der Eigentümer des Konzerns Alibaba, Jack Ma, war den Kommunisten immer wieder viel zu aufmüpfig. Er zog sich mehr oder minder freiwillig aus der ersten Reihe zurück. Das englische Wirtschaftsmagazin The Economist vermutet, dass die Kommunisten Ali Baba und seine 40 Räuber zurückdrängen möchten und stattdessen neue, der KP China komplett ergebene Start-Up-Unternehmen heranzüchten möchten.
Wie sich der chinesische Suizid auf die Weltpolitik insgesamt auswirkt, müssen wir noch sehen. Klar ist schon jetzt, dass die westliche Wertegemeinschaft aufatmen kann. Die USA und mit ihr im Schlepptau Großbritannien können auch weiterhin vom Verkauf von ungedeckten Wechseln und Kriegen prima leben.
Hermann Ploppa ist Buchautorund Chef des Wirtschaftsressorts dieser Zeitung.