Sehr geehrter Herr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier!
Wie Sie wissen, versammeln wir uns seit dem 28. März des Jahres auf dem Rosa-Luxemburg-Platz zu Berlin und hunderten weiteren Plätzen in unserer Republik — für unsere Verfassung, die bewährten liberalen Grundrechte und demokratische Transparenz bei der Wirtschaftsgesetzgebung.
Nachdem man uns von Anfang an in einer Härte entgegengetreten war, deren Vergleich allenfalls in der Türkei und Rußland gesucht werden kann, schrieb ich Sie persönlich an, um Sie zur inneren Einkehr zu bewegen — und bot Ihnen in aller demütigen Höflichkeit das Gespräch an.
Nicht einmal ein förmliches Zeichen kam aus unserem Bundespräsidialamt. Im Gegenteil ließ das Berliner Stadtgouvernement unter dem Wissen der Bundesregierung noch brutaler gegen unbescholtene BürgerInnen, JournalistInnen und Grundgesetztreue aller Couleurs angreifen.
Ich klage an, Herr Bundespräsident!
Seit Beginn des Notstandsregimes werden oppositionelle WissenschaftlerInnen in großer Zahl unterdrückt und verleumdet. Dazu zählen die anerkanntesten ExpertInnen auf den relevanten Fachgebieten. Eine Diskussion der öffentlichen Sache soll verhindert werden.
Als Journalist, Demokrat, Staatsbürger der Bundesrepublik und Antifaschist dulde ich es nicht, dass unsere Demokratie im Zuge eines Ausnahmezustandes geopfert wird, dessen offizielle Begründung höchst umstritten ist, während der Zusammensturz des Finanzmarktkapitalismus mit all dessen Implikationen überdeckt wird.
Die Aufklärung hat den Journalismus geboren und umgekehrt. Beiderlei Aufgabe war und ist es nicht, die Position der Regierung zu verkünden, sondern sie mit oppositionellen Positionen in Gegenüberstellung zu bringen. — Wenn sich Intellektuelle und Stadtbevölkerung im Moment der Krise bundesweit für das Grundgesetz versammeln, so verteidigen wir nicht weniger als alles, was Liberale und die Arbeiterbewegung seit 1789 erreicht haben. Für kritische Intellektuelle, Menschen liberalen Bürgersinnes und auch jene, die aus einem individuellen Gefühl heraus sprechen, stellt sich derzeit eine Zerstörung unserer Republik vor Augen, die von weiten Teilen der Berufspolitik gewollt oder billigend in Kauf genommen wird.
Hierzu sei gesagt, dass es zu keinem Zeitpunkt nur einen einzigen alternativlosen Weg in die Moderne gab. Die Gestaltung unserer Gesellschaft unterliegt keiner naturgewaltigen Konstante, die durch soziale und demokratische Gesetzgebung lediglich in ihrer Brachialität gemildert werden könnte.
Es ist das Wesen von Republik und Demokratie, dass die Implikationen der Öffentlichkeit transparent, repräsentativ und öffentlich verhandelt und entschieden werden.
In der Stunde des Versagens der Repräsentation unter Corona, der Nahezu-Gleichschaltung unserer Medien, ist es unsere Aufgabe als DemokratInnen, an unser Widerstandsrecht zu erinnern. Herr Bundespräsident, dies tun wir nicht zum Schein.
Denn weder Bundesregierung noch Bundestag haben ein demokratisches Mandat für die Einschränkungen der Grundrechte und noch weniger für fundamentale Entscheidungen, die die Essenz unserer Verfasstheit berühren oder gar in Frage stellen.
Ich bitte Sie darum, sich noch vor Beginn des Sommers zum 21. Juni 2020 öffentlich und vernehmlich dafür auszusprechen, dass die faire und ergebnisoffene republikanische Debatte hergestellt wird über – die sehr stark voneinander abweichenden Expertenmeinungen zur Gefährlichkeit des Virus – die Fraglichkeit der Ausgewogenheit und Verfassungskonformität der Regierungsmaßnahmen – die präzise Klärung der politischen Verantwortlichkeit für die Verfolgung Oppositioneller – die propagandistische Berichterstattung bis hin zu kaum verhohlenen Pogromaufrufen in öffentlich-rechtlichen und anderen regierungsnahen Medien gegenüber Oppositionellen und JournalistInnen – einen Untersuchungsausschuss zu Corona und alsbaldige Neuwahlen unter vollständig demokratischen Bedingungen noch vor Ende dieses Sommers.
Aufrichtiger Hoffnung mit vollkommener Hochachtung, Anselm Lenz — Journalist, Herausgeber der vorliegenden Wochenzeitung