DW: Wie ist die aktuelle Situation in Ottawa?
Julie Ponnesse: Ich war die ersten paar Tage nach der Ankunft des Konvois in Ottawa anwesend. Nach meiner Ein schätzung wird die dortige Situation sei tens der Demonstranten gut bewältigt, aber sie ist auch sehr komplex. Da kommen viele Faktoren zusammen – politische, rechtliche, finanzielle, psycholo gische, organisatorische und so weiter. Ein großes Problem stellt die adäquate Berichterstattung dar. Trotz der beherzten Bemühungen der Freien Medien und vieler Privatpersonen, ein genaues Bild des Protests zu übermitteln, stel len die Altmedien ihn weiterhin als eine rechtsextreme, extremistische, rassistische und destruktive Initiative dar.
Meine Erfahrungen in Ottawa und meine Kommunikation mit den Organisatoren seit meiner Abreise zeichnen aber ein ganz anderes Bild. Wir erleben da einen friedlichen, organisierten Akt des zivilen Ungehorsams, der von einer wach senden Zahl von Kanadiern unterstützt wird. Die LKWFahrer und diejenigen, die nach Ottawa gereist sind, um sie zu unterstützen – darunter Ärzte, Wissen schaftler, Akademiker, Jugendliche, Kinder und Familien, die eine Vielzahl von Ethnien, Altersgruppen und Religionen repräsentieren – zeigen extrem viel Liebe und Unterstützung für einander.
Die Atmosphäre ist wundervoll: Auf den Straßen werden Fahnen geschwenkt. Es wird gesungen, Menschen umarmen sich herzlich und tanzen heiter herum. Trucker räumen Schnee und Eis von den Bürgersteigen, sammeln Müll auf und helfen, Menschen durch den Verkehr zu führen. So viel Heiterkeit, Toleranz und Würde habe ich in Kanada seit Langem nicht mehr erfahren.
Wie entschlossen sind die Trucker dort zu bleiben und was sind ihre Ziele?
Ich kann die aktuellen Absichten oder Ziele der Organisatoren des Konvois nicht direkt kommentieren, aber ich kann sagen, dass sie in unserem letzten Gespräch unglaublich entschlossen waren, in Ottawa zu bleiben, bis die CoronaMaßnahmen aufgehoben wer den. Sie wollen selbstverständlich weiterhin friedlich bleiben. Ich glaube nicht, dass viele Leute damit gerechnet haben, dass sie so lange durchhalten würden. Es ist ein starkes Zeugnis ihres Engage ments sowohl für unsere Ideale als auch für ihre körperliche und geistige Ausdauer. Dies ist eine friedliche Selbstermächtigungs und Freiheits-Bewegung, die unsere Verfassungsrechte hochhält.
Wie sind die Reaktionen auf Justin Trudeaus Notstands-Regime?
Es kommt ganz darauf an, wen Sie fragen. Offiziell scheint die Mehrheit von Trudeaus eigenen Abgeordneten den Ausnahmezustand zu unterstützen. Die Führer der Oppositionsparteien sagen jedoch, dass seine Entscheidung sich auf das Notstandsgesetz zu berufen, ein »Beweis für das Versagen« bei der Bewältigung der landesweiten Proteste und Blockaden sei.
Trudeau hat keine vernünftigen Versuche unternommen, sich mit den Demonstranten auseinanderzusetzen. Die Organisatoren des Konvois haben um ein Treffen mit dem Premierminister gebeten, um die Maßnahmen und die Impfpflicht zu besprechen. Er verweigerte dies aller dings. Die Organisatoren machen klar, dass sie friedlich an Ort und Stelle bleiben, bis die CoronaMaßnamen aufgehoben werden. Er hingegen beschimpft sie als Rassisten und Terroristen und beschlagnahmt ihr Geld.
Die öffentliche Debatte ist vergiftet, ein ordentlicher demokratischer Prozess scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Die Kanadier, selbst diejenigen, diedie Aktionen des CoronaRegimes aus drücklich unterstützt haben, werden nunzunehmend kritischer gegenüber den Maßnahmen und den Übergriffigkeitender Regierung.
Die Zukunft wird zeigen, was die Umsetzung des Notstandsgesetzes tatsächlich für uns bedeutet und wie lange unser Land brauchen wird, um sich vom Hass und der Spaltung zu erholen, die Trudeau gesät hat.
Die Fragen stellte Jill Sandjaja
WER IST JULIE PONESSE?
Professorin JuliePonessehatin Philosophiepromoviert mit Spezialisierung auf Ethik und Philosophie der Antike. Sie hat 20 Jahre lang an verschiedenenUniversitäten in Kanada und den USA gelehrt.
Im Herbst 2021 brach ihre 20-jährige akademische Karriere auseinander, nachdem sie sich geweigert hatte, die Covid-Impfpflicht einer kanadischen Universität einzuhalten. Als Reaktion darauf nahm Ponesse ein Video auf, das sich an ihre Ethikstudenten richtete. Dieses Video ging viral.
Seit der Veröffentlichung dieses Videos ist Ponesse der Stiftung »Democracy Fund« als Ethik-Expertin beigetreten und bemüht sich um die Aufklärung der Öffentlichkeit über bürgerliche Freiheiten.