Vor einem Jahr sah ich Frau Hägele-Alleze in der Nähe der Siegessäule in Berlin. Sie stand Auge in Auge mit der Staatsmacht. Sie hatte diesen durchlässigen Blick und schenkte mir das beigefügte Foto. Heute treffe ich sie in Schwäbisch Gmünd und wir sprechen über 18 Monate Widerstand auf der schwäbischen Alb sowie über die Demo am 29. August 2020 in Berlin und die Übergriffe der Polizei am 30. August 2020.
Stellen Sie sich doch bitte kurz vor!
Mein Name ist Christine ich bin verheiratet und glückliche Mama von zwei wunderbaren Kindern. Momentan befinde ich mich im Studium zur Naturheilpraktikerin.
Wie sieht es mit dem Widerstand hier in der Provinz aus?
Lange Zeit war ich Teil des Querdenken-711-Teams und habe Widerstand auf der Straße geleistet. Mittlerweile arbeite ich mit Menschen, die sich auf die Zukunftswünsche und Bedürfnisse unserer Kinder konzentrieren. Wir kreieren Lösungen für unseren Alltag und gehen neue Wege. Wir sind auch im Widerstand, aber anders. Wir haben uns regional verbunden und arbeiten sehr lösungs- und zukunftsorientiert.
Wie haben Sie die Demo am 29. August 2020 in Berlin in Erinnerung?
Es war ein aufregender Tag. Die endlose Warterei an der Friedrichstraße, keiner wusste was passieren würde. Später auf der Straße des 17. Juni waren sicherlich eine Million Menschen unterwegs. Die Atmosphäre war einmalig, so friedlich und bunt. Und die Kennedy-Rede war natürlich der Höhepunkt. Ein Tag, den wohl keiner vergessen wird, der dabei war.
Und wie haben Sie den 30. August 2020 erlebt?
Der 30. August 2020 war das komplette Gegenteil. Die Stimmung war von Anfang an etwas komisch, es lag etwas in der Luft. Lange hat es dann wahrlich nicht gedauert, bis die Berliner Polizei, oder treffender gesagt die Söldner der US-Firma Constellis, ihrem Auftrag nachkamen. Sie gingen zum Teil brutal gegen die Menschen vor, selbst wenn es nur um die Kontrolle der Personalien ging. Ein Tag der Schande. Auch einige ältere Friedensaktivisten wurden brutal zu Boden gedrückt und mitgenommen. Absolut beschämend diese Bilder. Selbst vor einer schwangeren Frau wurde kein Halt gemacht. Für mich, ich war damals zum ersten Mal auf einer Demo, waren das schockierende Szenen. Für diese absolut sinnlose Gewaltbereitschaft finde ich keine Worte. Jeder der dabei war, weiß, wovon ich spreche. Die Fotos aus Ihrem Bildband dokumentieren diesen Tag.
Das emotionalste Foto habe ich Ihnen zu verdanken! Erzählen Sie unseren Lesern bitte die Geschichte hinter dem Bild.
Ich nenne es einfach mal Konfrontation von Mensch zu Mensch. Ich konnte nicht fassen, wie unmenschlich die Polizei vorgegangen ist. Ich war als Ordnerin eingesetzt und habe einem Beamten nur eine lapidare Frage gestellt, woraufhin dieser gleich seinen Schlagstock zog. Wie angewurzelt blieb ich daraufhin einige Meter vor ihm stehen. Ich war fassungslos. Ich sah ihm offen in die Augen und er konnte dem Blick nicht lange standhalten. Dieser junge Polizist wusste genau, wie menschenverachtend er und seine Kollegen sich an diesem Tag verhielten. Er war dann auch sichtlich erleichtert, als er den Befehl zum Truppenabzug erhielt und sich so meinem Blick entziehen konnte. Das Foto habe ich zum ersten Mal gesehen, als die Anfrage von den Organisatoren des Schweigemarsch kam, ob sie es für den Flyer und Trailer verwenden dürften.
Danke, dass Sie Ihre Zustimmung gegeben haben.
Man muss heutzutage Gesicht zeigen! Ich empfinde das wichtiger denn je. Wer jetzt wegschaut und alles unreflektiert geschehen lässt, macht sich, ich muss es so hart sagen, mitschuldig. Aus diesem Aspekt heraus habe ich auch meine Zustimmung gegeben, das Bild zu veröffentlichen und mich als Gesicht des Schweigemarsches zur Verfügung zu stellen. Die Freigabe hat mir viele schöne, menschliche Kontakte eingebracht. Vor allem die Zusammenarbeit und mittlerweile Freundschaft zu den Friedensaktivisten in Berlin möchte ich nicht mehr missen. Ich grüße auf diesem Wege einige Herzensmenschen. Allen voran: Andy, Silke, Marco und Andrea! Danke, dass es euch gibt und dass ihr immer ein offenes Ohr für mich habt!
Wie sieht Ihre Prognose für die Demokratiebewegung aus? Was brauchen wir, um die Sache zu unserem Gunsten zu kippen?
Wir benötigen den Widerstand auf der Straße und die Auklärung noch unbewusster Menschen. Zudem ist ein lebenslanges, achtsames Hinterfragen der eigenen Werte und des eigenen Handelns nötig, um die Welt zu verändern. Wir brauchen mehr menschliche Wärme statt Distanz, mehr klärende Gespräche miteinander statt Gespräche übereinander. Kommt in die Gänge und übernehmt Verantwortung für all euer Tun, schließt euch zusammen, bildet Gruppen, regional wie überregional, und begreift endlich, dass Telegram-Nachrichten lesen kein Widerstand ist. Es ist an der Zeit, mutig zu sein und zu handeln.
Hannes Henkelmann ist Sozialarbeiter und Fotograf. Er führt die DW-Alltagsinterviews.