Wie ist es möglich, Professor Meyen, dass Medien die Zahl von »17.000«, später »20.000« am 1. August 2020 übernahmen, obwohl jeder, der nur in der Nähe war, weiß, dass mindestens eine Stelle in der Zahl fehlen muss, diese also zumindest in die Hunderttausende ging, wahrscheinlich sogar weit über eine Million?
Punkt eins ist die Quellenabhängigkeit. Medienangebote müssen gefüllt werden – und zwar schnell. Viele Journalisten übernehmen folglich einfach die Mitteilungen offizieller Stellen. Dazu kommt, Punkt zwei, eine Quellengläubigkeit. Wenn Zahlen von der Pressestelle der Polizei kommen, gelten sie als gesetzt. Für Journalisten ist es im Arbeitsalltag oft schwierig, Quellen zu hinterfragen. Das liegt auch daran, dass schon die Herkunft vieler Journalisten eine Nähe zu den Menschen produziert, die solche Quellen herstellen. Das erschwert es, ein gesundes Misstrauen zu entwickeln. Die Journalisten sehen die Welt so ähnlich wie die Entscheider. Da ist die Neigung nicht sehr ausgeprägt, offizielle Verlautbarungen für Falschmeldungen zu halten.
In Großbritannien berichtet die BBC inzwischen gar nicht mehr von den Demonstrationen mit teils Millionenbeteiligung, die direkt vor ihrer Senderzentrale stattfinden. Wie kommen die System-PR-Leute überhaupt aus dem Gebäude?
Wahrscheinlich nur noch durch die Hintertür, um die Wirklichkeit auszublenden. Die Frage hinter Ihrer Frage ist also: Warum finden wir in den traditionellen Medien so wenig von der Wirklichkeit, die alle wahrnehmen können? Wir stellen seit Jahren fest, dass die Wirklichkeit in den traditionellen Medien um jene Teile beschnitten wird, die nicht in das Weltbild der Medienmacher passen. Mein Kollege Uwe Krüger, Medienforscher der Universität Leipzig, hat dafür den Begriff »Verantwortungsverschwörung« geprägt. Journalisten glauben, dass sie Einfluss auf die Menschen haben. Also wird die Wirklichkeit um die Teile reduziert, die nicht zur Haltung passen, und das betont, was dem gewünschten Ziel zu helfen scheint.
Spin Doctors statt Berichterstattung und Kritik?
Marcus Klöckner sagt: Weltbildjournalismus. Das eigene Weltbild wird zum Maßstab für das, was sein darf. Wir haben mittlerweile einen ganz neuen Wahrheitsbegriff. Es geht nicht mehr darum, möglichst nah an die Wirklichkeit heranzukommen. Wahr ist, was »gut« und »richtig« ist. Es soll das wahr werden, was bestimmten Milieus nützt.
Welche Milieus sind das?
In den Redaktionen dominiert ein bürgerlich-akademisches Großstadtmilieu, das schon deshalb eine Art Schutzmantel um Politiker und Wirtschaftsführer legt, weil es die bewundert, die es noch weiter nach oben geschafft haben. Arbeiterkinder sind die absolute Ausnahme. Man muss sich heute leisten können, Journalist zu sein. Es dauert ein paar Jahre, bis man vom Schreiben oder Filmen leben kann. Die Praktika werden schlecht oder gar nicht bezahlt. Man braucht also ein Elternhaus mit Geld oder wenigstens mit Kontakten. Die Angst vor dem sozialen Absturz erzeugt Konformität. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten viele festfrei. Das ist oft gut bezahlt, bietet aber keinerlei Sicherheit. Es kann jeden Moment vorbei sein. In den großen Presseverlagen werden seit Jahren Stellen abgebaut. Allein die Süddeutsche Zeitung baute im vierten Quartal 2020 gut 50 Stellen ab. Auch das führt zu Anpassung.
In Ihrem Werk schildern Sie, wie Sie als Medienprofessor versuchen, trotzdem freie Wissenschaft zu betreiben. Wie gelingt Ihnen dies?
Indem ich auf bestimmte Belohnungen verzichte, die das Wissenschaftssystem bietet. In meiner Disziplin geht es um Publikationen in US-Zeitschriften. Das mache ich seit ein paar Jahren nicht mehr, weil in den Reviews immer wieder Dinge angezweifelt wurden, die offensichtlich sind. Das Interesse jeder Regierung zum Beispiel, das zu kontrollieren, was über sie in der Öffentlichkeit gesagt wird. Ohne solche Publikationen ist es schwer, Drittmittel vom Staat oder aus der Wirtschaft einzuwerben. Auf der anderen Seite gewinne ich neue Möglichkeiten. Dazu zähle ich auch, dass wir jetzt dieses Gespräch für die Wochenzeitung Demokratischer Widerstand haben. Solche Möglichkeiten sind mindestens genauso viel wert.
Ihr Wort in Gottes Ohr! Haben Sie mit persönlichen Repressalien zu kämpfen?
Als Professor in Deutschland ist man verbeamtet. Man bekommt ein Gehalt und eine Grundausstattung für die Forschung. Man muss sich die Freiheit dann natürlich auch nehmen und aushalten, dass es Kritik oder Nichtachtung im Kollegenkreis gibt. Ich werde weniger eingeladen und habe Kontakte verloren. Das sind aber keine Repressalien. Ich finde eher erstaunlich, dass viele Professoren erst den Mund aufmachen, wenn sie im Ruhestand sind.
Zuletzt übernahmen etwa das Blatt Bild oder Die Welt viele Monate später die Ergebnisse aus den Berichten in unserer Zeitung. Nachweislich zum Beispiel zur Intensivbettenlüge. Kommt Bewegung in den Medienhauptstrom?
Wir haben in der Medienforschung dafür ein Konzept: Indexing. Die Forschung zu diesem Konzept sagt: Journalisten berichten immer dann, wenn bestimmte Ansichten in der offiziellen politischen Debatte vorkommen, etwa im Parlament. Was Washington – Brüssel, Berlin – nicht diskutieren, erscheint nicht in den Medien, und was Politik oder Wirtschaft nicht vorkauen, kann der Journalismus nicht verdauen. Wenn jetzt etwas verspätet im Mainstream erscheint, dann deutet das darauf hin, dass es Richtungskämpfe im politischen Zentrum gibt. Die Leitmedien haben legitime Sprecher, die sie zitieren können.
Warum tun linke Parteien nichts für die Leute, die unter den Maßnahmen leiden?
Professor Meyen, wir danken für das Gespräch
Die Fragen stellte Anselm Lenz.
Im Juli 2021 erscheint von Michael Meyen »Die Propaganda-Matrix« im Rubikon-Verlag, München.