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ANGST VOR DEMOKRATIE

Vor dem Referendum sind selbst die Eidgenossen vor Polizeiwillkür nicht mehr gefeit. | Von Nadine Strotmann

Von Nadine Strotmann

© Bild: DW / Strotmann

Eine nicht genehmigte Demonstration veranlasst eine Schweizer Behörde, die eigene Innenstadt mit Polizisten zu fluten, um eine verbotene Kundgebung im Keim zu ersticken. Ein verstörender Aufmarsch auf Kosten der Steuerzahler.


Der letzte Samstagmorgen im Mai beginnt freundlich im Schweizer Kleinod Solothurn: Blauer Himmel, keine Wolken in Sicht, die Sonne strahlt, und endlich ist auch hier – rund 100 Kilometer südwestlich von Zürich – der Frühling angekommen. Die Fassaden der Häuser im alten Stadtkern dokumentieren die lange Geschichte Solothurns. Die meisten von ihnen stammen noch aus der Zeit des Barock. Erhaben ruhen die alten Mauern, der große Platz mitten vor dem Kirchturm ist noch leer, erst später werden Passanten am Rande des bunten Brunnens sitzen und sich vom Einkaufsbummel erholen. Während die ersten kleinen Läden ihre Türen öffnen, weht vom Café am Eck frischer Kaffeeduft herüber und lockt die ersten Gäste unter die großen gelben Sonnenschirme. Friedvoll. Idyllisch. Wenn nicht nach und nach ganz in Schwarz gekleidete, verschalte, schwer bewaffnete Polizisten mit Helmen und Masken einmarschieren würden, um sich an den Fassaden zu sammeln.


MEHR POLIZISTEN

ALS PASSANTEN


Während sich die Innenstadt mit Menschen füllt, die wie gewöhnlich samstags ihre Einkäufe erledigen, strömen immer mehr Uniformierte auf den Marktplatz, befragen Passanten nach ihrem Anwesenheitsgrund, sperren die Zugänge zum Platz, zu einigen Geschäften und – wie Passanten erzählen – sogar teils die Zufahrt zur Stadt komplett. »Die Polizei ist nur hier, weil die städtischen Behörden Angst haben, dass heute eine nicht genehmigte Demonstration der Corona-Maßnahmen-Gegner stattfinden könnte«, erklärt eine junge Frau der Café-Besitzerin, die das Geschehen staunend vor ihrer Terrasse verfolgt. Demonstranten sind nicht erkennbar: weder Menschen mit Transparenten, noch Trychler (Trommler) oder Sprechgesänge sind zu hören. Vor Ort flanieren überwiegend normale Passanten, die irritiert das Geschehen und den Aufmarsch der Polizei verfolgen. Mittlerweile sind mehr Polizisten als Zivilbevölkerung anwesend. Manch einer mag sich fragen, ob ein hohes Staatshaupt hier auf der Durchreise sei, eine Bombendrohung erfolgte oder ähnliches. Immer wieder drehen sich die Menschen im Vorbeigehen fragend um und beobachten, was die schwer bewaffneten Beamten in dieser Vielzahl in der Innenstadt treiben.


FREIHEITRUFE SCHALLEN

ÜBER DEN MARKTPLATZ


Doch plötzlich klettern zwei Männer und eine Frau aus der Menge auf den Brunnen, halten Transparente hoch und beginnen zu rufen: »Liberte!« (Freiheit!) Die Menschen auf dem Platz – ob zufällig oder geplant – nehmen den Impuls auf, bleiben stehen und stimmen in den Ruf nach Freiheit mit ein. Immer wieder. Immer lauter. Immer mehr. »Liberte!« Der junge Mann, auf dem Brunnen, offensichtlich ein Aktivist der Demokratiebewegung, hält währenddessen die Schweizer Fahne hoch, lässt sie im leichten Frühsommerwind und den Freiheitsrufen wehen, weit über den Köpfen der Polizisten. Ein erhabener Moment. Auf dem Banner der Frau, einer bekannten Aktivistin der Demokratiebewegung in Zürich, steht: »Grundrechte gelten immer – alle«.

Jetzt greifen die Polizisten ein. Sie bilden einen Kessel um den Brunnen, an dessen Rand noch Passanten mit ihrem Eis in der Hand sitzen, sie grenzen mit Absperrbändern den gesamten Platz ab und verharren in ihren Positionen. In den kleinen Straßen, die zum Platz führen, rücken weitere Einsatzwagen nach. Nach und nach ersticken die Freiheitsrufe, es erfolgt eine Durchsage der Polizei, man habe den Platz zu verlassen, alle eingekesselten Personen erhielten eine Anzeige und nach Aufnahme der Personalien einen Bußgeldbescheid. Doch die Menschen gehen nur zögerlich, setzen sich ins angrenzende Café, beobachten das Geschehen, bleiben hinter den Absperrbändern stehen und suchen das Gespräch – unter sich und mit der Polizei.


REFERENDUM STEHT BEVOR,

BEHÖRDEN UNTERDRÜCKEN KRITIKER


Ein Mann mittleren Alters, mit hellen, blauen Augen, Strohhut und einem verschmitzten Lächeln erzählt: »Ich komme aus der Demokratiebewegung der Schweiz, heute bin ich inoffiziell hier, die große genehmigte Demo ist ja in Genf. Allerdings haben wir uns mit ein paar anderen Oppositionellen aus der Region verständigt, bei schönem Wetter einfach nur so hierher zu kommen und zu schauen, was es in Solothurn so gibt.« Der Mann heißt Jean-Claude Greuter, ein bekanntes Gesicht der Corona-Maßnahmen-Kritiker in der Schweiz. Insgesamt seien rund 30 Corona-Maßnahmen-Gegner vor Ort und das Zigfache an Polizisten. »Das zeigt, dass auch die Schweiz als eines der liberalsten Länder der Welt mittlerweile ein Demokratieproblem hat, denn unsere Meinung als Kritiker der Regierung wird unterdrückt.« Offensichtlich werde die Regierung nervös, schließlich stehe am 13. Juni das große Referendum zum Covid-19-Gesetz in der Schweiz an (DW berichtete in Ausgabe 49).

Neben Greuter steht eine junge Frau, sie nickt zustimmend. Es ist Jasminka Aarau. Auch sie ist aktiv in der Demokratiebewegung, setzt sich speziell für den Schutz von Kindern ein. Auf ihrer Website kesv.ch/medienspiegel sammelt sie Berichte, klärt auf. Sie erzählt: »Anlass für dieses gewaltige und offensichtlich unverhältnismäßige Polizeiaufkommen ist ein bekanntes Prozedere: Corona-Maßnahmen-Gegner, die sich unter dem Namen Stiller Protest in der Schweiz seit Anfang der ausgerufenen Pandemie zusammenschließen, hatten den üblichen Rechtsweg genommen und für den 29. Mai eine Versammlung mit zeitlichem Vorlauf angemeldet. Diese wurde von der Stadt Solothurn verboten, und darauf erfolgte von Seiten der Organisatoren eine offizielle Absage, mit dem Verweis, man solle an der genehmigten Demonstration in Genf am selbigen Tag teilnehmen.« Sie sei heute hier, um einfach zu schauen, was hier trotz Verbot passiere. Die Stadt habe wohl sehr große Angst vor Regierungskritik, sonst gäbe es nicht dieses Aufgebot an Polizisten, sagt Aarau.

Laut Medienberichten entschied sich die Solothurner Behörde, weitere Polizeiunterstützung aus mindestens vier Kantonen für diesen Tag anzufordern. Die Kosten belaufen sich für diesen Einsatz nach Schätzungen auf rund 100.000 Schweizer Franken (rund 91.000 Euro). Während eine Handvoll Aktivisten festgenommen und ihre Personalien gesichert werden, leert sich allmählich der Platz. Am frühen Nachmittag ist der Großeinsatz vorbei – und zurück bleibt nur die Schweizer Fahne – neben dem Brunnen, auf dem Boden.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 50 am 04. Juni 2021




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