Der Nationalstaat moderner Prägung wurde seinerzeit zum Vehikel für die Durchsetzung der Ideen der Französischen Revolution. Das bedeutet, dass wir dem Staat französischer Prägung Dinge wie demokratische Verfasstheit, Gewaltenteilung, Trennung von Staat und Religion sowie Bürger- und Menschenrechte verdanken.
Für das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert war die Erringung der Nationalstaatlichkeit gleichbedeutend mit Fortschritt, Humanismus und Moderne. Durch nationalistische Egoismen jedoch wendete sich der große Erfolg der Nationalstaatsidee gegen die Prinzipien der Moderne und führte zu zwei Weltkriegen. Aus dieser Erfahrung lernend, setzte die weitere Modernisierung auf transnationale Systeme wie Völkerbund, UNO, EU oder Mercosur. Die wurden – wieder ist die Dynamik in der Zeit zu beachten – später von den Politikern missbraucht: Viele Vorhaben etwa, die im eigenen Land politisch nicht durchsetzbar schienen, wurden von den nationalen Regierungen Europas nach Brüssel oder Straßburg delegiert, um anschließend als EU-Gesetze zurückzukehren. Viele antieuropäische Ressentiments haben hier ihren Ursprung, da die Regierungen gegenüber dem eigenen Volk diese ungeliebten Gesetze und ihr Zustandekommen allein der EU zuschreiben.
In der monatelangen Abfolge intellektueller Zumutungen, die diese Krise mit sich brachte und immer noch mit sich bringt, mag eine Meldung der vergangenen Wochen ein wenig untergegangen sein: Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird die Querdenker beobachten. Mit allen »Werkzeugen«, die ihm zur Verfügung stehen. Interessant ist die Begründung. Und sie wirft ein Schlaglicht auf die Akteure in Bund, Ländern und Parlamenten: Es sind Etatisten quer durch alle Parteien. Der erste Teil erschien in der zurückliegenden Ausgabe des DW.
IST DAS STAAT
ODER KANN DAS WEG?
Während der Epoche der Moderne wurde selten der Versuch unternommen, den Staat zur Gänze abzuschaffen. Das wäre zweifelsohne der radikalste und wohl auch der humanistischste Ansatz gewesen, dem Problem staatlicher Unterdrückung und Korruption zu begegnen. Hier gab es eine prominente Auseinandersetzung zwischen dem Vordenker der Anarchie Michail Aleksandrowitsch Bakunin und dem des Kommunismus Karl Marx. Der Erste argumentierte, dass das höchste Ziel einer Revolution die Beseitigung der Unterdrückung sein müsse und damit die Abschaffung des Staates. Der andere erwiderte, dass eben zum Gelingen der Revolution der Staat vonnöten sei. Nur mithilfe staatlicher Organe ließen die Ziele der Revolution sich durchsetzen. Bakunin konterte, dem Volk könne es egal sein, ob der Stock, mit dem es geschlagen werde, ein »volkseigener« sei.
Nun, die Revolution mit Staat wurde für etwa ein Achtel der Weltbevölkerung durchgesetzt. Sie brachte wenig Reichtum und viel Zwang. Eine revolutionäre Gesellschaft ohne staatliche Ordnung finden wir im Barcelona beziehungsweise Katalanien des spanischen Bürgerkriegs in den 1930er Jahren. Natürlich war die Ausgangslage für dieses Experiment denkbar ungünstig: Ein kleiner Landesteil, abgeschnitten von den bis dato funktionierenden Lieferketten für Industrie und Lebensmittelversorgung, im Kriegszustand und praktisch ohne Verbündete – die Sowjetunion hatte zunächst Hilfe angeboten, die aber auf dem Transport durch Europa behindert wurde.
Barcelona stand allein gegen den mächtigen Feind Francisco Franco, den Deutschland und Italien tatkräftig mit Waffen unterstützten. Dennoch gelang es den Beschäftigten der SEAT-Werke, in Eigenregie die zivile Autoproduktion auf eine militärische umzustellen. Das Leben in der Stadt lief trotz Bedrohung von außen und Mangelwirtschaft im Innern geordnet weiter. Wie dieses Experiment unter normalen Bedingungen ausgegangen wäre, ist schwer zu sagen.
Eine ungewöhnliche Koalition aus wohlhabenden katalanischen Unternehmern und Moskau treuen Stalinisten brachte die Anarchie schließlich vor den anrückenden Truppen der Putschisten zu Fall. Eine räterepublikanische Organisation mit selbstverwalteten Fabriken war Rechten wie Linken gleichermaßen ein Dorn im Auge. Den einen, weil die Fabriken, die da enteignet worden waren, ihnen gehört hatten. Den anderen, weil sie zwar Enteignung per se begrüßten, in allererster Linie aber ihre Staatspartei und deren autoritären Führungsstil verteidigten. Freiheit für die werktätige Bevölkerung war beiden Seiten fremd. So blieb das anarchistische Catalunya nicht viel mehr als eine Fußnote der Geschichte.
EINE VERFASSUNG IST IMMER
NUR SO GUT WIE DIE GERICHTE
In den modernen Demokratien fand sich schließlich eine andere Antwort auf die Schwierigkeiten mit »Gesellschaftsvertrag« und »Volonté générale«: Eine Verfassung, in Deutschland Grundgesetz genannt, in den meisten Ländern als Constitution bekannt. Die Verfassung garantiert – so die Theorie – dem Bürger Rechte, die Regierungen ihm nur allzu gern absprechen oder vorenthalten. Diesen Punkt kann man gar nicht deutlich genug herausstellen: Eine moderne demokratische Verfassung ist keine Gesetzessammlung, die dem Bürger in erster Linie vorschreibt, was er zu tun habe, sondern die ihn schützt vor seinem Staat und den von ihm zu befürchtenden Übergriffen. Über die Einhaltung der Verfassung wacht ein oberstes Gericht, unabhängig von den jeweils Regierenden. So weit, wie gesagt, die Theorie.
Verfassungsrecht und Verfassungspraxis aber klaffen auseinander. Und je älter ein politisches System wird, desto weiter öffnet sich die Schere. Längst sind die politischen Parteien dazu übergegangen, sämtliche Richterposten – bis zu den Verfassungsgerichten – mit mehr oder minder willfährigen Anhängern ihrer eigenen Ideologie zu besetzen. Eine Verfassung ist aber letzten Endes nur so gut, wie ihre Durchsetzung durch unabhängige Gerichte. Das bedeutet, für den Normalbürger wurden seine konstitutionell garantierten Rechte im Lauf der Zeit immer unerreichbarer. In den westlichen Demokratien hat die Bevölkerung ab den 1960er Jahren die Modernisierung ihrer Gemeinwesen selbst in die Hand genommen mit den überall aufkommenden Bürger- und Wählerinitiativen. Das heißt in Anlehnung an Rousseau, der Umsetzung der »Volonté générale« wurde ein wenig nachgeholfen. Die Herrschenden waren darüber übrigens in praktisch keinem Land glücklich und kriminalisierten die, die ihr Leben da auf demokratische Art selbst organisieren wollten. Sie schickten Polizei mit Knüppeln, Wasserwerfern und Tränengas, bisweilen kamen auch Gummi und scharfe Geschosse zum Einsatz.
Eine andere Tatsache sei hier am Rande beleuchtet. Dass es nämlich einerlei ist, welche Art politischer Kaste sich durch Protestierer belästigt fühlt – der Schah von Persien als korrupter Statthalter westlichen Kapitals, die auf ihn folgenden Ayatollahs, autoritäre antiwestliche Religionswächter, die Stadtverwaltung Hongkongs, Marionette des pseudokommunistischen Regimes in Peking, der Präsident Venezuelas, ein kommunistischer Populist, irgendein asiatischer oder afrikanischer Despot, der korrupte Regierungschef Israels oder der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, ein demokratisch gewählter Handlanger der Atom-Industrie. Die Fernsehbilder, die sie produzieren, gleichen sich frappierend: Polizisten schlagen stets mit freudigem Elan zu, treten, schinden und foltern. Kein politisches System scheint jemals Probleme beim Rekrutieren dieser Art Mensch für diese Art Arbeit gehabt zu haben. Ja, die Herrschenden sind sich im Kampf gegen die eigene Bevölkerung – System übergreifend – so sehr einig, dass die CIA ihre Gefangenen zum Zwecke der Folter auch schon mal an den Erz-Staatsfeind Baschar al-Assad in Syrien überstellte.
Dies sei zugestanden: Nicht alle, die sich da mobilisieren, zusammenschließen, demonstrieren und öffentlich sichtbar werden, haben Wahrung der Freiheit und Modernisierung im Sinn.
Ganz im Gegenteil: Heute verkleiden sich die Befürworter staatlicher Unterdrückung als freiheitsliebende Demonstranten, logistisch und finanziell unterstützt, darf man annehmen, vom – Verfassungsschutz. Dass der Dienst den Rechtsextremismus in vielerlei Hinsicht sponsert, geht aus dem gerichtlichen Scheitern des NPD-Verbots, juristisch exakt untersucht, hervor. Folglich steht zu befürchten, dass jene Behörde, der jetzt Befugnisse gegen die »Querdenker« eingeräumt wurde, selbst eine der größten Bedrohungen für die Verfassung darstellt. Welch ein Zufall, dass Kamera und Ton schon standen, bevor der »Sturm auf den Reichstag« begann. Woher wusste man, dass es hier, abseits der Route, etwas zu filmen geben würde?
DER STAAT ALS NOTWENIGES ÜBEL?
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass der Staat nichts an sich Positives darstellt. Im besten Fall ist er ein notwendiges Übel, den Einzelnen vor gewalttätigen oder kriminellen Subjekten zu schützen, Infrastruktur aufzubauen beziehungsweise in Stand zu halten und – vielleicht auch das – vor Angriffen von außen zu schützen. Wenn auch die drei genannten Vorteile gegeben sind, so werden sie doch stets von den Nachteilen konterkariert: Der einseitigen Parteinahme für die Reichen und Mächtigen durch die Jahrhunderte. Der Unterdrückung von politischer Opposition und dissenten Auffassungen, zumeist also die Unterdrückung der eher Kreativen und Zukunftsweisenden im Lande. Allein eine freiheitlich-demokratische Verfassung kann den Bürger vor diesen Übeln schützen – und auch nur, wenn sie von ihnen eingefordert und immer wieder gegen Angriffe von Seiten der Regierung verteidigt wird. Ausgerechnet diese demokratisch Gesinnten zu kriminalisieren, zeigt die Verderbtheit des politischen Establishments. Der Innenminister kontert, man wolle ja nicht alle verfolgen – nur die Anführer, denen ex cathedra de mufti unterstellt wird, von Vorneherein mit verfassungsfeindlichen Elementen gemeinsame Sache gemacht zu haben, den »Delegitimierern« mithin. Eine Straftat namens »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« aber gibt es im Gesetzbuch gar nicht. Mithin ist die nun eingeleitete Verfolgung selbst bereits wieder verfassungsfeindlich.
Von Anbeginn war das Anliegen des Humanismus die Einheit von Handeln und Denken, also wissenschaftlicher Kritik und Demonstration. Jetzt erschließt sich, warum die Encyclopædia Britannica dieses Junktim »politisch« nannte.
DÉJÀ VU
Wenn im Herbst Bundestagswahlen anstehen, dann kann das Wahlvolk auf anderthalb Jahre zurückblicken und politische Akteure, die aufgrund von durch sie selbst und den von ihnen alimentierten willfährigen Zuarbeitern manipulierten Zahlenwerken die Bürger und Menschenrechte mit Füßen traten. Ausnahmen waren im Parteienspektrum so gut wie nicht zu finden. Warum nicht? Weil wir siebzehn Parlamente voller Etatisten haben. Voller Menschen, die davon überzeugt sind, dass das Volk unter dem Staat stehe, und nicht, dass der Staat überhaupt nur eine Existenzberechtigung habe, wenn er dem Volk diene. Man sage nicht, dass die Mehrheit ja für die Einschränkungen war – nach generalstabsmäßiger Verängstigung. Die Wahrung der Verfassung ist eine Ewigkeitsaufgabe und nicht abhängig von temporärer Manipulation.
WELCHEN KORRUPTEN VERBRECHER
MÖCHTEN SIE WÄHLEN?
Hätten die Verantwortungsträger in der »Corona-Krise« denn überhaupt eine Wahl gehabt? Das Wörtchen »alternativlos« gefiel der Kanzlerin schon in der Bankenkrise. Und es war damals so falsch wie heute, wo sie dessen Gebrauch vermeidet, aber den Anschein erweckt, als sei es so. Es gibt keinen überzeugenden Beweis, dass Freiheitsberaubung – man nennt es »Lockdown« – einen signifikanten Einfluss auf die Minderung des Infektionsgeschehens hatte. Aus Großbritannien kommt sogar der Hinweis, dass das Einsperren die Verbreitung des Virus beschleunigte. Wiewohl auch die Kanzlerin einen Einschluss nach dem anderen ausrief, weil die Zahlen ihr geheimnisvoller Weise nicht folgen wollten. Schuld war selbstverständlich das Volk. Warum, möchte man mit Bert Brecht fragen, wählt die Regierung sich nicht einfach ein neues? Auch das Problem der fehlenden intensivmedizinischen Kapazitäten war kein gottgegebenes, das über die Regierung Merkel hereinbrach, sondern hausgemacht. Ihr Gesundheitsminister hatte den Anreiz für Spitäler abgeschafft, Tausende von Betten vorzuhalten. Also waren sie abgebaut und kein weiteres Personal eingestellt worden, während viel Geld an Großkonzerne floss.
Nun steht möglicherweise ein Regierungswechsel in Haus. Der unvoreingenommene Betrachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade die CDU diesen befördert. Warum wollte man nicht mit dem Zugpferd antreten, sondern mit einem lahmen Gaul? Die Antwort liefert ein Blick zurück: Helmut Kohl hatte die Staatsfinanzen gnadenlos zerrüttet mit seiner Wiedervereinigung – und die Sozialkassen obendrein. Diesen Scherbenhaufen überließ man der SPD unter Schröder, dem so kein Raum für Wohltaten blieb. Aber Schröder war ohnehin der Mann des Großindustrie – Hartz IV und der größte Billiglohn-Sektor Europas waren die Folge. Mit Frau Baerbock erscheint uns ein Déjà Vu: Die »Corona«-Trillionen kann keine Regierung der Welt ohne Finanz-Chaos wieder beibringen. Da gibt man das Ruder gern in neue Hände. Im Jahr 2020 wurde Baerbock vom Weltwirtschaftsforum zum »Young Global Leader« gekürt, wie auch Frau Merkel 1992 zu einem »Global Leader for Tomorrow« wurde. Mit anderen Worten: Dieselben Leute, die uns Angela Merkel gaben, servieren uns nun Annalena Baerbock, nachdem sie sich ausgiebig mit den Wirtschaftseliten vernetzt hat.
Wem seine verfassungsmäßigen Freiheiten am Herzen liegen, der ist bei den Grünen ausgesprochen schlecht aufgehoben. Sie sind Moralisten, die – und das ist die schlimmste Sorte – davon ausgehen, selbst die Guten zu sein. Sie werden ohne Skrupel den gesamten Machtapparat des Staates gegen die Bürger einsetzen. In urprotestantischer Art wird der Zweck die Mittel heiligen. Eines der am meisten benutzten Wörter in den Kommentarspalten 2022 wird »Verbotspartei« sein. Die Rechte der arbeitenden Bevölkerung werden dieselbe Missachtung erfahren wie unter einem Kanzler Schröder. Der Öko-Blockwart wird nicht mehr nur eine literarische Floskel sein. Bei der FDP suche man keine Zuflucht. Sie geriert sich als Bürgerrechtspartei, jetzt, wo die Bevölkerung erwacht ist und beim »Corona«-Unsinn nicht mehr mittun will. Doch Vorsicht: Einmal an der Regierung wird sie wieder auf jene Extremismuserlass und Gesinnungsschnüffler-Partei der 1970er zurückfallen. Derzeit steht auf dem Wahlzettel nichts, das den Bürger mit Hilfe der Verfassung vor den Regierenden schützen wird.
Der erste Teil erschien in der vergangenen Ausgabe des DW und online. Der Artikel enthält Auszüge aus: Cluse Krings, Vom Untergang der Moderne
Cluse Krings, geboren 1959 in Aachen, ist ein deutscher Autor, Theatermann, Ethnologe und Journalist. Er arbeitete für taz, Tip, Zitty, Neues Deutschland, Ra-dio Brandenburg, Der Freitag und den Sender Freies Berlin. Mit seinem Kollegen Wiglaf Droste schuf er die »Höhnende Wochenschau«.