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Der Etatist

das unbekannte Wesen. Teil 1

Von Cluse Krings

In der monatelangen Abfolge intellektueller Zumutungen, die diese Krise mit sich brachte und immer noch mit sich bringt, mag eine Meldung der vergangenen Wochen ein wenig untergegangen sein: Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird die Querdenker beobachten. Mit allen »Werkzeugen«, die ihm zur Verfügung stehen. Interessant ist die Begründung. Und sie wirft ein Schlaglicht auf die Akteure in Bund, Ländern und Parlamenten: Es sind Etatisten quer durch alle Parteien.

Am 28. April frohlockte die FAZ: »Nun ist es so weit: Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat einen neuen Phänomenbereich mit dem Namen Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates eingerichtet.« Da der Überwachungsdienst die Querdenker weder eindeutig dem rechtsextremen noch dem linksextremen Spektrum zuordnen kann, musste eine brandneue Kategorie aus der Taufe gehoben werden, die endlich die Kriminalisierung von Menschen in der Mitte der Gesellschaft ermöglicht. »Die Beamten«, heißt es weiter, »dürfen dabei auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, etwa Telefone überwachen oder V-Leute ansprechen.«

»Delegitimierung des Staates« bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen, die einen solchen Straftatbestand erfinden, den Staat, seine Institutionen und alle darin tätigen Politiker und Beamte – inklusive sich selbst natürlich – für per se legitim und über jeden Zweifel erhaben halten. Nach eventuellen Kritikern wird gefahndet. Das ist unmodern, anti-humanistisch, und nicht zuletzt: undemokratisch.

HUMANISMUS

Die Existenz von Staaten ist in der Antike bereits ein durchgängiges geschichtliches Faktum, von den Assyrern und Ägyptern über die Babylonier und Hethiter zu den Griechen und Römern. Deren Regierungssysteme mochten unterschiedlich, auch mit gewissen Hoffnungen oder, sagen wir, Ideologien unterfüttert gewesen sein wie die römische Res Publica, die Republik, oder die griechische Demokratie. Tatsächlich in Frage gestellt aber wurde die Institution des Staates damals nie.

Diese frühen historischen Staatswesen waren keine Nationalstaaten. Die Fiktion des Nationalstaats als ein quasi »natürliches« Gebilde war eine Kreation der Moderne während der Französischen Revolution. Die Staaten der Antike mögen als ethnisch reine Gebilde begonnen haben, entwickelten sich aber zu Vielvölkerstaaten, zu Imperien, die ihre Staatsangehörigkeit nicht rassistisch definierten. Römisches Bürgerrecht konnte ein Ägypter so sehr erlangen wie ein Gallier oder Iberer.

Spätestens im Mittelalter – wenn es nicht vorher schon der Fall gewesen sein sollte – wurden die Staaten Europas zu absurden Systemen zum Zweck der Machtausübung und Bereicherung jeweils sehr kleiner Gruppen: Adlige, Kirchenfürsten, Könige und Kaiser. Die übergroße Masse der Bevölkerung geriet darüber in bittere Armut.

Eine erste Änderung des mittelalterlichen Staatsverständnisses trat mit der Renaissance auf. In italienischen Handelsstädten wie Venedig oder Florenz entwickelten sich die ersten Kapitalisten im modernen Sinn. Ihr Geld verdienten sie im Fernhandel, re-investierten es immer wieder in neue Unternehmungen und waren bald wohlhabender als die Kirchenfürsten und Großgrundbesitzer ihrer Umgebung. In ihren Kontoren ging die Welt ein und aus. Von den wenig bewanderten Autoritäten des Mittelalters ließen sie sich kaum noch Vorschriften machen.

Der Humanismus wurde zu ihrem Ideal, die griechische und römische Antike zu ihrem Vorbild. Sie forderten eine Abkehr von mittelalterlicher Bevormundung: Man wollte ein freier Weltbürger sein, universell bewandert, an Bildender Kunst und Literatur interessiert, über sein Vermögen nach Gutdünken verfügend. Ein freier Mensch, der niemandem etwas schuldete. Ein Individuum, das die besten Qualitäten in sich hervorbrachte. Die Encyclopædia Britannica ergänzt: »So sehr Handlungen ohne geistige Einsicht als ziellos und barbarisch betrachtet wurden, so sehr wurde Einsicht ohne [entsprechende] Handlung als hohl und unvollständig abgelehnt. So forderte Humanitas ein feines Gleichgewicht zwischen Handeln und Denken. Ein Gleichgewicht, das keinem Kompromiss geschuldet war, sondern der Ergänzung zweier Prinzipien. Das Ziel solchermaßen erfüllter und ausgewogener Tugend war im weitesten Sinne des Wortes politisch.« Politisch, weil der Humanismus sich anschickte, das Mittelalter zu brechen und die Verhältnisse auf diesem Planeten auf neue Gleise zu heben.

Nichts hat der Renaissance-Humanismus zu tun mit dem, was in Deutschland ein »humanistisches« Gymnasium genannt wurde, das eine Art wilhelminischer Bildung fortschrieb. Nicht zu verwechseln auch mit dem, was heute »humanitär« genannt wird. Und noch viel weniger hat er zu tun mit den »humanitären Einsätzen« unserer Epoche, die – Afghanistan ist das jüngste Beispiel – nicht viel mehr sind als doppelte Raubzüge. Zum einen geht es um Rohstoffe oder geostrategische Positionen, also die Aneignung dessen, was denjenigen gehört, denen Hilfe geheuchelt wird. Und zweitens wird auch die Bevölkerung im Ursprungsland der »humanitären« Aggression bestohlen, indem Finanzmittel, die viel Gutes für sie bewirken könnten, Rüstungskonzernen in den Rachen geworfen werden für hoch subventionierten Schrott, der zu keiner vernünftigen Aufgabe in der Welt zu nutzen ist. Ebenso wenig sollte man beim Terminus »Kapitalist« in den Reflex einer automatischen Ablehnung verfallen.

Die Dinge sind dynamisch und ändern sich im Bezugssystem der Zeit. Die Fernhändler der Renaissance waren ein Segen und befreiten Europa aus der Finsternis von Religion und Unterdrückung. Funktion und Bedeutung des Kapitals änderte sich im Zeitenlauf – und damit auch seine Bewertung und Einordnung.

DIE GEBURT DES STAATS 

AUS DEM GEIST DER IDEOLOGIE

Die Avantgarde der Moderne nun, befreit von Kirche und Obrigkeit, wollte den Staat auf eine vernunftmäßige und nachvollziehbare Basis gründen. Dazu legitimierte sie ihn durch einen vom Briten Thomas Hobbes postulierten »Gesellschaftsvertrag«. Die Theorie besagte, der »Naturzustand«, in dem jeder gegen jeden kämpfte, habe nur durch die Übertragung des Gewaltmonopols auf einen Herrscher beendet werden können. Dieser Vorgang war von Hobbes – wohlgemerkt – nie nachgewiesen worden und dürfte eher als Ideologie zur Rechtfertigung der Verhältnisse im British Empire entworfen worden sein. Dennoch spitzte Hobbes seine Hypothese dahingehend zu, dieser Herrscher müsse stark und unbezwingbar sein, sodass niemand sich gegen ihn auflehnen könne. Hobbes verlieh seiner Idee zusätzliches Gewicht, indem er seinen fiktiven Herrscher in Anlehnung an das Alte Testament »Leviathan« nannte. Die brutale Ausübung dieses Gewaltmonopols wurde später durch den Vordenker der Französischen Revolution Jean Jacques Rousseau für den Fall gerechtfertigt, dass die Regierung durch das Volk bestimmt worden sei und entsprechend dem generellen Willen der Bürger, der »Volonté générale«, handle. Das Konzept wurde zur Grundlage praktisch aller westlichen Demokratien. Und ist unter anderem verantwortlich für die zweifelhafte Formel am Ende eines jeden Gerichtsverfahrens: »Im Namen des Volkes».

ZU SCHÖN, UM WAHR ZU SEIN

Das Konzept von Hobbes und Rousseau war zum einen geschichtlich, zum anderen konzeptionell falsch. So gut es klingt, und so einleuchtend es sogar sein mag – einen »Gesellschaftsvertrag«, wie Hobbes ihn sich vorstellte, hat es historisch nie gegeben. Die Wahrheit ist, dass nach dem Übergang von der Phase der Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbauern – und erst recht mit der ersten Metallverarbeitung – die Gesellschaft arbeitsteilig wurde. Das bedeutet, dass der Gletschermann Ötzi wohl noch alle Fertigkeiten seiner Epoche selbst beherrschte, wir tausend Jahre später aber Schmiede, Kürschner, Müller vorfinden. Die unterschiedlichen Gewerke generierten aus ihrer Arbeit unterschiedlich viel Profit, so dass einige reicher – und mächtiger – wurden als andere. Vor allem der nun aufkommende Grundbesitz konnte einzelne Familien aus der Masse der weniger Betuchten herausheben. Bald schon sehen wir Großgrundbesitzer, die andere Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu Frondiensten zwingen. Mit der in der Folgezeit immer weiter zunehmenden Ungleichheit geht auch eine Bewaffnung der Habenden gegen die Habenichtse einher – bis hin zur Aufstellung eigener Truppen der Allerreichsten. Am Ende dieses Prozesses steht ein Landvogt oder König, dem jeweils große Ländereien gehören und der sogar über die bestimmen kann, die nicht lohnabhängig für ihn arbeiten.

Zu dem historischen Irrtum eines »Gesellschaftsvertrags« gesellte sich die »Volonté générale« als zweiter, als ein konzeptioneller Fehler. Wo immer es einen Staat gab, da gab es auch wohlhabende und mächtige Kreise, die ihn zur Geisel nahmen. Wenn wir uns ins Venedig oder Florenz der Renaissance zurückversetzen, dann finden wir mit der Zeit Patrizier-Familien, die sich mit erlesenen Stoffen und Stadtpalais zu schmücken begannen, die bei Tisch feine Spezereien benutzten und die sich sogar den Luxus erlaubten, sich in ihrer Religionsausübung vom niederen Volk unterscheiden zu wollen und Calvinisten wurden. Diese hatten nicht viel gemein mit ihren Webern, Lageristen oder Seeleuten, die ein ärmliches Leben fristeten im Dienste des Profits der Patrizier. Und selbstverständlich waren die wenigen gut Betuchten in puncto Korruptionspotenzial, mithin Einfluss auf den Staat, derMassederBesitzlosenüberlegen.So begannen die Wohlhabenden, den Staat nach ihren Bedürfnissen zu formen.

Entsprechend ist der moderne Staat ein unvollständiges Gebilde geblieben: In seiner Ideologie, dem Humanismus, sogar in seiner legalen Verfasstheit proklamiert er die Entfaltung der Persönlichkeit und Bildung für alle Menschen, Herrschaft des Volkes, Gleichheit vor dem Gesetz und eine angemessene und gesetzeskonforme Anwendung von Zwangsmaßnahmen. In der politischen Realität jedoch blieb er weit hinter diesen Idealen zurück. Daher hat es eine »Volonté générale« nie gegeben – der moderne Staat wurde stets von widerstreitenden Interessen bedrängt. Denn dem Einfluss der Patrizier stellte sich eine Vertretung der arbeitenden Bevölkerung entgegen. Der Verfassungstheoretiker Carl Schmitt nennt den Widerstreit in einem 1932 erschienen Aufsatz sogar den »Begriff des Politischen«, also so etwas wie die eigentliche Bestimmung von Politik. Diese Tatsache versteht die Mehrheit der Bürger nicht recht. Streit ist bei einfachen Menschen negativ besetzt. Darin einen Lebenssinn – gar den Sinn der Politik schlechthin – vermögen sie nicht zu erkennen.

Jener Nationalstaat moderner Prägung wurde seinerzeit zum Vehikel für die Durchsetzung der Ideen der Französischen Revolution. Das bedeutet, dass wir dem Staat französischer Prägung Dinge wie demokratische Verfasstheit, Gewaltenteilung, Trennung von Staat und Religion oder Bürger und Menschenrechte verdanken. Für das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert war die Erringung der Nationalstaatlichkeit gleichbedeutend mit Fortschritt, Humanismus und Moderne. 


Der zweite Teil erscheint in der kommenden Ausgabe des DW. Der Artikel enthält Auszüge aus: Cluse Krings, VOM UNTERGANG DER MODERNE

Cluse Krings, geboren 1959 in Aachen, ist ein deutscher Autor, Theatermann, Ethnologe und Journalist. Er arbeitete für taz, Tip, Zitty, Neues Deutschland, Radio Brandenburg, Der Freitag und den Sender Freies Berlin. Mit seinem Kollegen Wiglaf Droste schuf er die »Höhnende Wochenschau«




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 48 am 21. Mai 2021




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