Argentinien mit seinen rund 45 Millionen Einwohnern, das viele mit Tango, Diego Maradona, und der weiten Landschaft Patagoniens verbinden, befindet sich in einer heftigen sozialen und wirtschaftlichen Krise, die durch Corona noch verstärkt wurde.
»Echar leña al fuego« (deutsch: Öl ins Feuer gießen), ist ein Ausdruck, der gut zur aktuellen Situation Argentiniens passt. Dass das südamerikanische Land einmal ein reiches Land war, das mit Europa und den USA zu vergleichen war, davon merkt heute niemand mehr etwas. Der Staat war schon beim Regierungswechsel im Dezember 2019 pleite und hoch verschuldet, denn unter dem ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri wurde Argentinien vom Internationalen Währungsfond (IWF) der größte jemals vergebene Kredit eingeräumt. Jedoch floss das Geld nicht an die Stellen, an denen es dringend gebraucht wurde, die Inflation blieb gleich hoch und 42 Prozent der Menschen leben aktuell unter der Armutsgrenze. Während die Situation in den Villas, den Armenvierteln, immer brenzliger wird, herrscht in den einkommensstärkeren Schichten Fluchtstimmung. Wer irgendwie kann, wandert aus, vor allem nach Europa.
DIE ZWEITE WELLE
Verstärkt wurde Argentiniens Krise durch den knallharten Lockdown, der Anfang 2020 ausgerufen wurde und bei dem sogar die Nahrungsmittelproduktion heruntergefahren wurde. Dabei zeigte er nicht einmal positive Effekte, denn die Infektionszahlen blieben gleich hoch wie im Nachbarland Brasilien, das keinen Lockdown machte. Nach einer relativ entspannten Öffnungsphase in den Sommermonaten, in der volle Strände und sogar Partys möglich waren, erschallen jetzt mit Winterbeginn panische Warnungen vor einer »zweiten Welle«. Auf einmal sind die Theater und Kinos wieder zu und auch Restaurants und der Einzelhandel erwarten erneute Einschränkungen. Die Mobilität ist zumindest offiziell eingeschränkt, nur wer »systemrelevant« ist, soll sich frei bewegen können. Eigens dafür wurde im März letzten Jahres eine App entworfen, über die Standorte nachverfolgt und Ausgangserlaubnisse kontrolliert werden, was in der Realität nicht immer so streng gehandhabt wird.
KEINE ÜBERSTERBLICHKEIT
Das alles passiert, obwohl Argentinien im Jahr 2020 keine erhöhte Sterblichkeitsrate verzeichnete, wie man den Statistiken des internationalen Datenportals IndexMundi entnehmen kann. Im Gegenteil, es gibt sogar eine Untersterblichkeit. Auch die Intensivstationen sind, entgegen der medialen Darstellung, selbst in der am dichtesten besiedelten Region Buenos Aires nicht überfüllt. Gleichzeitig werden Therapien verschoben und die häusliche Gewalt nimmt zu, was in einem Land in dem Gewalt gegen Frauen und Kinder weit verbreitet ist, noch viel verheerender ist. Das mediale Schauspiel gleicht dem Deutschlands. Mit der stetig steigenden Rate der Testpositiven und der Zahl der an oder mit Corona Verstorbenen – 66.871 Stand Mai 2020 – wird ein Ausmaß von Angst erzeugt, das einen Großteil der Menschen lähmt. Die Angst in der Bevölkerung, an Covid zu erkranken ist deutlich höher als in Deutschland und dementsprechend hoch ist auch die Impfbereitschaft. Dazu kommen die Einschüchterungsmethoden des Staates, der die bereits finanziell ausgelaugten Unternehmer weiter am unteren Existenzminimum hält, indem er ihnen nur einen Bruchteil ihrer finanziellen Einbußen entschädigt, während gleichzeitig die Korruption innerhalb der Regierung unter den Tisch gekehrt wird.
WACHSENDER PROTEST
Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung maßnahmenkonform zu sein scheint, hat sich auch in Argentinien bereits ein stetig wachsendes Netzwerk kritisch Denkender herausgebildet, die einen politischen und medizinischen Diskurs fordern. Unter ihnen sind die Médicos por la verdad, das spanische Pendant der Ärzte für Aufklärung, das, von Deutschland inspiriert, in Spanien und bereits in den meisten lateinamerikanischen Ländern Initiativen gründete. In Argentinien war es der Augenarzt Mariano Arriaga, der die Gruppe ins Leben rief und jetzt an der Seite anderer Ärzte quer durch das Land reist und Straßenaufklärung betreibt. Auch hat sich unter dem Rechtsanwalt Miguel Luis Marcelo Iannolfi eine Gruppe von 400 Anwälten formiert, die für die Wiederherstellung des Rechtsstaates kämpft.
Seit Mai 2020 finden vor allem in der Hauptstadt Buenos Aires immer wieder Demonstrationen statt. Jüngst formierten sich große Proteste gegen erneut anstehende Schulschließungen, die bezeichnenderweise von linken Gewerkschaften gefordert wurden. Tausende Eltern, Schüler und Lehrende demonstrierten daraufhin für die Rückkehr zum Präsenzunterricht und ein Ende der Hygienemaßnahmen. Auf ihren Plakaten ist außerdem zu lesen: »Nein zur kommunistischen Diktatur« »Gebt mir meine Rechte zurück«, »Wacht auf, sie belügen uns«. Doch leider greift auch im Land des Tangos das Prinzip »spalte und herrsche«, wenn es um die Verhinderung eines geeinten Widerstandes geht. Und das nicht erst seit 2020. Seit Jahrzehnten ist die Gesellschaft in zwei politische Lager geteilt, in die konservativ eingestellten Neoliberalen und die linken Peronisten. Wie in vielen Ländern, ist es auch in Argentinien vor allem die Linke, die sich sonst gerne als die barmherzigen Samariter darstellt, die gerade jetzt besonders harte Einschränkungen fordert. Die Proteste kommentierte Präsident Fernández in einer Pressekonferenz am 16. April in knallhartem Ton mit: »Rebellion, nicht mit mir. In einem Rechtsstaat werden die Gesetze befolgt.«
INTERNATIONALER WIDERSTAND
Und noch spielt die Mehrheit mit, auch bei völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen. Wer es nicht tut, muss fürchten, medial diffamiert zu werden. Sucht man online etwa nach Anhängern der »Ärzte für Wahrheit« in Argentinien, so findet man die gleichen Nachrichten über FakeNews, wie wir sie aus Deutschland kennen. Trotzdem ist Hoffnung gerechtfertigt. Dass die Welle der corona-kritischen Experten bis nach Lateinamerika schwappte, zeigt, dass die Widerstandsbewegung auch international wächst und dass es wichtig ist, die Vernetzung weiter voranzubringen und dem globalen Süden zu vermitteln: Wir sind bei euch. An dem Öl, das die Pandmie ins Feuer gießt, entzünden wir gemeinsam Widerstandsfackeln.