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GRENZENLOSE FARCE

Ein Lokalaugenschein an der mehr oder weniger geschlossenen Grenze zwischen Bayern und Tirol.

Von Sophia-Maria Antonulas

Das bayerische Priental ist eng und dunkel. Es beginnt sich erst bei Sachrang, dem letzten Dorf vor der Grenze, etwas zu öffnen und weitet sich in Österreich zu saftigen Wiesen. Auf der Tiroler Seite glitzern die Alpengipfel in der Sonne, wie auf den Hochglanzfotos der Reisekataloge. Doch die Einreise von Deutschland aus ist für touristische Zwecke absolut verboten. Hotels und Gaststätten sind geschlossen, Ferienorte ausgestorben – hüben wie drüben.

Die nächste Tankstelle zu Sachrang mit seinen 210 Einwohnern befindet sich 500 Meter außerhalb des Ortes, allerdings auf der anderen Seite der Staatsgrenze. Von der Stelle aus, an der die deutschen Polizeibeamten ihren Posten, der aus einem Transporter und einem Dixie-Klo besteht, bezogen haben, kann man fast hinüberspucken. Als die Nebenstraße durch das Priental am 14. Februar dieses Jahres zuerst von Bayern aus geschlossen wurde, ließ der Tankstellenbetreiber die deutschen Grenzpolizisten nicht auf seine Toilette: »Ihr nehmt mir ja die Kunden weg. Warum soll ich euch einen Gefallen tun?« Doch die Menschen hier haben über Jahrhunderte gelernt, trotz aller Widrigkeiten miteinander auszukommen. Außerdem hat inzwischen auch Tirol die Einreise fast unmöglich gemacht. So dürfen die deutschen Grenzer sich jetzt doch im Warmen erleichtern. Die Tiroler Bauern können dafür direkt im Niemandsland ihre Produkte an die Betreiberin des Sachranger Dorfladens übergeben. Eine Hand wäscht die andere. Das war schon immer so. Man arrangiert sich.

An diesem frostigen Abend Ende Februar geht eine Frau mit einem Rollkoffer und ihren zwei kleinen Töchtern – die eine links, die andere rechts an der Hand – zu Fuß langsam auf die Polizeibeamten zu. Sie wurde mit dem Auto bis knapp an die Grenze gebracht. Der Fahrer hat allerdings keine Ausbeziehungsweise Einreisegenehmigung. Er wartet besorgt in seinem Fahrzeug, bis die drei sicher durch die neuen Kontrollen durch sind. Zuerst das deutsche Prozedere. Einige zögerliche Schritte weiter steht die Frau mit ihren Kindern vor dem provisorischen Scherengitter, das sie von Tirol trennt. Die österreichischen Grenzbeamten stellen Fragen, überprüfen die Papiere und öffnen dann doch kurz die Absperrung. Eine ältere Frau, die an der Tankstelle geduldig wartete, nimmt die drei herzlich in die Arme. Sie steigen ins Auto und entfernen sich schnell.

»GRENZENLOS WANDERN«

Mehrere Erholungssuchende tummeln sich auf den Wanderwegen, die die grüne Grenze zwischen Bayern und Tirol immer wieder kreuzen und auch jetzt frei begehbar sind. Mit wogenden Locken kommt eine Frau im Sommerkleidchen beschwingt den Berghang hinunter. An diesem für diese Jahreszeit ungewöhnlich warmen Tag ruft sie: »Reißt euch die Lappen runter! Da oben auf der Alm könnt ihr nackt die Sonne genießen.« Bei einem alten Grenzstein im Wald antwortet ein junger Mann auf die Frage, ob wir jetzt schon Österreich sind, lachend, »etwas Illegales muss auch mal sein«.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auf den alten Schmugglerpfaden zwischen Bayern und Tirol regen Verkehr. Waren wurden über Stock und Stein an den Zollwachen vorbei ins jeweils andere Land gebracht. Heute machen die lokalen Tourismusverbände mit dem Motto »Grenzenlos wandern« für dieselben Wege Werbung. Seit 1998 gibt es de facto keine Grenze mehr, und selbst davor ist man einfach durchgefahren. Viele österreichische Bauern haben Wiesen und Felder auf der deutschen Seite gepachtet, um sie zu bewirtschaften. Deutsche und österreichische Kühe stehen gemeinsam in den Ställen. Zahlreiche Tagesausflügler aus München und Umgebung verbringen ihre Freizeit üblicherweise in Tirol. Derzeit stehen die zahlreichen gebührenpflichtigen Parkplätze zwischen Straße und Waldrand allerdings leer. Ganz anders auf der bayerischen Seite. Da reicht der Platz für all die Wanderer, die mit dem PKW anreisen, bei weitem nicht aus.

So wie viele schüttelt auch eine Tiroler Bäuerin auf die geschlossenen Grenzen hin angesprochen nur den Kopf: »Der Opa hat’s g’habt, die Oma, die Tante, alle sind wieder gesund. Das mit den Grenzen ist doch politisch. Wir Tiroler Bauern waren schon immer frei, das ist vielen ein Dorn im Auge. Aber vielleicht hat das auch was mit dem Brennerbasistunnel zu tun. Da wehren sich noch einige auf der bayerischen Seite.« Mit dem Tunnel soll der Gütertransport von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Denn 40 Prozent des gesamten LKW-Verkehrs über die Alpen rollt durch Tirol. Deutschland hat die Grundsatzvereinbarung für das Vorhaben 2009 zwar unterschrieben, mehrere Verkehrsminister äußerten sich seitdem aber skeptisch darüber, dass die Bahn eine Lösung sei.

Die Landwirtin erzählt, dass die Leute zusammenhalten, denn »die Jungen feiern halt privat. Aber hier verpfeift niemand den andern«. Und den Grenzbeamten sage sie einfach, »siehst nicht, dass ich beim Friseur war«. Denn in Österreich sind die Friseurläden schon seit Mitte Februar geöffnet, bedient wird aber nur, wer einen negativen PCR-Test vorweisen kann. Doch nicht alle Grenzpolizisten lassen sich von gestylten Haaren beeindrucken: »Es kommt darauf an, wer gerade Dienst hat.«

Erika und Johannes Kirnberger wohnen seit 15 Jahren in einem schmucken Reihenhaus in Sachrang. »Wir sind von unserem Freizeitgebiet abgeschnitten. Nach der Arbeit drehen wir sonst unsere übliche Runde mit den Rennrädern«, erzählt Erika Kirnberger, »und meine beste Freundin kann ich auch nicht sehen. Die wohnt nämlich auf der anderen Seite. Sollen wir jetzt zum Sport einen Aus- und Einreiseantrag stellen?«

ALLE 48 STUNDEN EINEN PCR-TEST

Nervös überprüft Petra Müller (Name von der Redaktion anonymisiert), ob sie wirklich alle Papiere beisammen hat. Denn wer zum Arbeiten über die Grenze muss oder einfach nur Waren transportiert, braucht nicht nur einen aktuellen PCR-Test, sondern gleich mehrere schriftliche Bestätigungen. Die Physiotherapeutin wohnt in Rosenheim und pendelt fünfmal die Woche durch das Inntal zu ihrem Arbeitsplatz an einer Klinik in Tirol. Jeden Morgen muss sie sich zuerst online für die Einreise nach Österreich registrieren und die Bestätigung ausdrucken. Alle 48 Stunden muss sie einen PCR-Test über die Nase machen lassen und das aktuelle Ergebnis ebenfalls in schriftlicher Form dabeihaben. Dann noch der Zettel, auf dem groß und in Rot »Pendler« steht, der muss hinter die Windschutzscheibe. Für den abendlichen Heimweg muss die Grenzgängerin sich wieder online registrieren und alles ausdrucken, diesmal für die Einreise nach Deutschland. »Das macht etwas mit dir. Mir ist zum Heulen«, seufzt Müller und ihr kommen tatsächlich die Tränen. »An der Grenze stehen meist junge Polizisten, manchmal auch mit der Maschinenpistole im Anschlag.« Seit einigen Tagen scannen sowohl die Österreicher als auch die Deutschen ihren Ausweis. Als sie fragte, was das soll, bekam sie die Auskunft, dass bei der Interpol überprüft werde, ob Straftaten vorliegen. »Also wegen Corona kann das nicht sein«, schwenkt Müllers Verzweiflung in Wut um. Die tägliche Email vom Gesundheitsamt Rosenheim, die besagt, dass sie in Quarantäne soll, ignoriert sie nur mehr.

WEHRHAFTE UNTERNEHMER

Seit Ende Oktober finden in Rosenheim jeden Mittwoch Mahnwachen statt. Auch Unternehmer und CSU-Mitglieder halten Reden. Am Rande der Veranstaltung besprechen sie einen gemeinsamen offenen Brief, den sie am darauffolgenden Samstag übergeben wollen. Und sollten die lokalen Medien nicht darüber berichten, wollen sie ganzseitige Anzeigen schalten. Denn der jüngste Suizid einer 21-jährigen Geschäftstreibenden soll nicht umsonst gewesen sein. Wehrhaft zeigt sich auch Wolfgang Schulze-Boysen. Der Deutsche betreibt seit 2015 das Hecherhaus auf 1.900 Metern Höhe in Schwaz in Tirol. Er hat gemeinsam mit acht Mitstreitern eine Verfassungsklage eingebracht. Er sei zwar »pleite«, habe aber kein Verständnis für die jüngste Verordnung, laut der Hütten ohne Straßenanbindung weder Speisen noch Getränke zum Mitnehmen anbieten dürfen. »Ich will auch nicht aufsperren und Leute testen. Die sind doch alle gesund. Da spiel ich nicht mit«, empört sich der Hüttenwirt. Denn für eine echte Pandemie brauche es doch keine PR-Agentur und keine Propaganda-Maschinerie.

KÜSSEN IN KÖSSEN

Auf einem Feldweg auf dem Berghang kommen sich ein Mann und eine Frau, beide etwa um die 50 Jahre alt, entgegen und begrüßen sich mit einem innigen Kuss. Sie kam von der deutschen, er von der österreichischen Seite. Leichtfüßig passieren sie die rostige Baggerschaufel, die Fahrzeugen den Weg über den Berghang unmöglich machen soll. Auch sie halten die Grenzschließungen für politisch. Hand in Hand gehen sie weiter Richtung Kössen in Tirol dem Sonnenuntergang über den Alpen entgegen. 




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 39 am 05. März 2021




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