Als Einstieg eignen sich Äußerungen, die der frühere Finanzminister und jetzige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 18. November 2011 beim European Banking Congress in Frankfurt gemacht hat: »Die Kritiker, die meinen, man müsse eine Kongruenz (Deckungsgleichheit) zwischen allen Politikbereichen haben, gehen ja in Wahrheit von dem Regelungsmonopol des Nationalstaats aus. Das war die alte Rechtsordnung, die dem Völkerrecht noch zugrunde liegt mit dem Begriff der Souveränität, die in Europa längst ad absurdum geführt worden ist. Spätestens in den zwei Weltkriegen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr souverän gewesen.«
Zehn Jahre später spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sogar vom »Gift des Nationalismus«. Nation und positive Bezüge zur Nation sind degradiert zu pornographischen Schmuddelwörtern. Nur mal zur historischen Richtigstellung: das Projekt »Nation« ist ein linkes Unternehmen. Entstanden aus der Französischen Revolution von 1789. Bislang war der Staat eine Sache des Königs. Von nun an sahen die selbstbewusst gewordenen Bürger den Staat und die Nation als ihr kollektives Eigentum an. Dieses Virus pflanzte sich nach Deutschland fort in der Bürgerlichen Revolution von 1848. Die Bürger wollten ihr Staatswesen nun auch mit eigenen Milizen verteidigen. Doch Bismarck zerstörte mit Blut und Eisen die revolutionären Träume vom geeinten Gesamtdeutschland und machte das Preußen-Restdeutschland zum Hort des aggressiven Militarismus. Damit begann der Missbrauch der Nation als stählerner Panzer gegen andere Nationen. Das ist es, worauf sich Schäuble bezieht.
Daraus leitet Schäuble jedoch ab, der Nationalstaat sei grundsätzlich kriegerisch und aggressiv und müsse deswegen zerschlagen werden. Er preist stattdessen über den Nationen stehende Regierungsformen der so genannten Governance. Governance ist das elitäre Gegenmodell zum Government.
Government ist die Regierungsform der repräsentativen Demokratie: die Bürger wählen Abgeordnete in Parlamente (Legislative) und die Parlamente wiederum wählen sich eine Regierung ((Exekutive).. Legislative und Exekutive werden wiederum von der Gerichtsbarkeit kontrolliert (Judikative). Governance ist dagegen das Modell, in dem neben den genannten Zweigen der Demokratie auch andere »Player« an runden, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Tischen mit entscheiden: Dazu gehören
Konzerne und Nichtregierungsorganisationen sowie supranationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Europäische Union oder die Weltgesundheitsorganisation WHO.
GEWALTENTEILUNG? NICHT MEHR »MARKTKONFORM«
Schäuble, Merkel, Steinmeier und ihre Mitstreiter arbeiten erklärtermaßen darauf hin, dass die supranationalen Organisationen der Governance als Bäume immer größer werden und mit ihren Wurzeln so langsam die Gemäuer des Nationalstaats zum Zerbersten bringen. Das heißt dann unter anderem: EU-Recht bricht Nationalrecht. Oder: die Weltgesundheitsorganisation WHO bestimmt mit Hilfe der Bundesbehörde RKI, welche Impfstoffe in Deutschland gefördert werden.
Sind wir jemals gefragt worden, ob wir diese Governance überhaupt wollen? Gab es darüber eine Volksabstimmung? Ist mir nicht bekannt. Es liegt auf der
Hand, dass hier seit Jahrzehnten eine schleichende Entdemokratisierung stattgefunden hat. Globale Konzerne und deren steuerflüchtige Stiftungen bestimmen mittlerweile die Richtlinien der Politik. Wir befinden uns auf dem Weg in den weltweiten Neofeudalismus, in dem superreiche Individuen wie einstmals Könige darüber bestimmen, was das entrechtete Fußvolk zu tun und zu lassen hat.
Wir müssen wie unsere Vorfahren von 1789 oder 1848 erneut den öffentlichen Raum und den Nationalstaat für uns zurückerobern. Ob wir den Staat nun mögen oder nicht: der Staat ist der letzte noch halbwegs funktionstüchtige Großorganismus, der der Allmacht der Superreichen noch Einhalt gebieten kann. Die Ersetzung oder Abschaffung des Staates ist ein hehres Ziel, das wir nicht aus den Augen verlieren sollten. Aber zunächst müssen wir unsere elementaren Freiheiten durch die Rehabilitierung des Staates wieder zurückerobern.