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Glosse

Um das Thema kämpfen

Von Jill Sandjaja

Am zweiten Tag als man uns die Maßnahme aufgezwungen hat, höchstens zu zweit die Öffentlichkeit zu betreten, lag ich beim Aufwachen noch eine Stunde im Bett, schaute blicklos in die Luft auf meine kahle Decke und dachte: »Passiert das gerade wirklich? Vor allem, was passiert gerade und warum? Warum schaue ich aus dem Fenster raus und bin verwirrt?

Hab ich mir das nur eingebildet oder schieben die anderen auch denselben Film wie ich? Ich frage den Typen, der neben mir liegt: »Dürfen wir heute noch arbeiten?« Er antwortet: »Nein, das ist gerade nicht möglich.« — »Also ist es wahr - muss ich jetzt sterben?«, entgegne ich. Er will mich beruhigen und sagt: »Ach Quatsch, und selbst wenn einer von uns krank wird, sind wir zusammen!«

Die Zeit vergeht. Man fragt sich, wenn man gerade nicht arbeiten, Theater machen oder studieren kann, was man machen soll. Ein paar Stunden vor dem Laptop hocken, sich Filme anschauen oder blöde Spiele spielen. Klopapier kann man auch nicht mehr kaufen.

In mir wuchs das Gefühl der Unzufriedenheit, Einschränkung und Zweifel. Warum? Warum kann ich mein Leben nicht mehr frei gestalten? Nicht mehr da weitermachen, wo ich vor vier Wochen war? Und warum, so scheint es mir, wirkt es so unwirklich, weil ich das Gefühl habe, wenn ich aus dem Fenster schaue, dass die Menschen da draußen es einfach so hinnehmen. Die Menschen sind immernoch die Menschen, nur der Abstand unter ihnen hat sich vergrößert und ihre Mode hat sich leicht verändert.

Die meisten haben Angst, bleiben zu Hause und wenn sie raus gehen, legen sie sich einen Maulkorb an. Aber ich kann diesen Trott, den ich schon seit meinem gesellschaftlichen Erwachen, nach meinem Abitur kennengelernt habe, nicht mehr einfach so hinnehmen. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich mich nicht mehr unterwerfen kann. Zu Hause bleiben, 5000 Euro kassieren und die Fresse halten.

Frau Merkels Rede, die ich nostalgisch mit meinen Freunden im Radio verfolgt hatte, zeigte mir, dass es unsere Regierung ernst meint. Wir sollen vor allem Leuten danken, die noch arbeiten dürfen beziehungsweise arbeiten müssen, um unsere Grundversorgung zu sichern. Ich finde irgendwie seitdem sind die Kassierer bei Rewe und Lidl viel aufgeschlossener und freundlicher als sonst. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, dass ein überfälliges Danke, genau das ist, was diese tapferen Menschen, unabhängig von der Zeit, in der wir leben, immer hören sollten. Vor allem ein großes Danke an die Leute, die seit Jahren unterbesetzt und unterbezahlt in unserem Gesundheitswesen arbeiten.

Die jungen Ärzte gingen vor knapp zehn Jahren auf die Straße, weil sie angemessen bezahlt werden wollten. Daraufhin wurde die zehn Euro Pauschale beim regelmäßigen Arztbesuch eingeführt. Die Frage ist: Legt der Staat wirklich Wert auf den Schutz unserer Gesundheit, oder hat er nur Angst seinen Ruf zu verlieren? Wenn ersteres Fall ist: Warum ist das Gesundheitswesen heruntergewirtschaftet? Warum haben sie nicht Geld investiert. Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich zuerst die Frage stellen, ob die Maßnahmen angemessen sind.

Wenn zweiteres der Fall ist: Bedeutet das vielleicht dann auch, dass sie einfach nur ihre scheiß egoistische Macht aufrecht erhalten wollen, gar ihr Image und Standing aufzupolieren zu versuchen? Warum hat unsere liebe, besorgte Regierung nicht schon längst unser Geld so verwendet, dass wir gesund bleiben, gesund werden oder im Alter vornehm gepflegt werden für unsere timelife Buckelei. Nun auf einmal möchte Mutter Merkel an unsere Solidarität appellieren. Heute sind fast vier Wochen vergangen, seitdem die Regierenden entschieden haben, dass das Land, in dem ich lebe, der Notstand für ein Jahr ausgerufen wurde. Mit welcher Begründung? Damit sie über den Haushalt, den sie für ein Jahr zur Verfügung hätten, so bestimmen können, wie sie und ihre Freunde es wollen, während sie an uns ihre erbärmlichen (Halt-die-Fresse-)Hilfspakete rausfeuern?

Und all dieses Geld zu verballern geht auf einmal ganz schnell. Während man seit der Agenda Schröders betteln musste für jeden einzelnen Cent, sich zum Affen machen musste, die Würde jedes Hilfbedürftigen durch Hundekacke gezogen wurde, Menschen zu Tafeln geschickt worden sind, um überhaupt etwas in den Magen zu bekommen — und vor allem wir immer mehr armen Menschen in der U-Bahn und auf der Straße begegnen, die noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben.

Nun muss man in diesem Ausnahmezustand nur seine Sozialversicherungsummer angeben, »Ja« ankreuzen — und schon hat man kein Problem mehr. Da sie uns noch nie geliebt haben, sondern nur soweit haben kommen lassen, dass wir keinen Aufstand machen, wird es auch diesmal nur so gemeint sein. Keine Eingliederungsvereinbarung, keine Papiere, die noch fehlen. Nee, das ist jetzt normal, damit wir ein paar Wochen stillhalten. So wollen es die öffentlich-rechtlichen, das Establishment. — Propaganda gibt es länger. Ich halt übrigens meine Klappe, sonst glaubt noch jemand, ich sei Verschwörungstheoretikerin oder ein Nazi. Ich weiß nicht, ob das wirklich so schwer zu erkennen ist, aber mir werden gerade ein paar Freiheiten entzogen.

Ich kämpfe für mein Recht, so zu leben, wie ich es für richtig halte. Eigenverantwortlich, menschlich und miteinander.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 1 am 16. Apr. 2020




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