Bildungs- und Entwicklungschancen auf dem Corona-Schaffott


Schon lange vor Beginn der zur Eindämmung von Covid-19 ergriffenen Maßnahmen befand sich das deutsche Bildungswesen in einem weitgehend desolaten Zustand, der sich in vielerlei Hinsicht auf die Bildungsund Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen auswirkte.



Das Ausmaß der aus den Corona-Maßnahmen resultierenden Einschnitte in das Leben von Kindern und Jugendlichen nur dann annähernd vollständig erfassen, wenn der »neoliberale« Hintergrund mitgedacht wird. Die gegenwärtige Situation ist das Ergebnis einer seit über zwei Jahren andauernden Maßnahmenpolitik, die besonders im (vor-)schulischen Bereich für erhebliche Probleme und Irritationen gesorgt hat. Die vielen Unklarheiten lösten teilweise heftig geführte Diskussionen aus. Es geht um die Frage, wie es um die zukünftigen Bildungs- und Entwicklungschancen der jetzt lebenden Kinder und Jugendlichen voraussichtlich bestellt sein wird.

Seit der durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgenommenen Einstufung von Covid-19 als weltweite Seuche (Pandemie) haben wir in Deutschland nun schon zwei komplette und mehrwöchige Schließungen unserer Bildungseinrichtungen erlebt. Für die Schulen, die hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen sollen, begann der erste Lockdown im März 2020, dem im Dezember desselben Jahres die zweite Schließung folgte. Die erste Schulschließung war eingebettet in einen allgemeinen Shutdown, der so weit ging, dass sogar Spielplätze mit Flatterbändern abgeriegelt wurden und nicht mehr betreten werden durften. Mit Ausnahme eines mühsam aufrechterhaltenen Notdienstes, den Eltern mit »systemrelevanten« Berufen in Anspruch nehmen konnten, mussten alle Kinder plötzlich zu Hause bleiben und dort lernen, was fälschlicherweise sofort als Homeschooling bezeichnet worden ist.

Nach anfänglicher Euphorie stellte sich allerdings ziemlich schnell heraus, dass diese Unterrichtsvariante nur eine begrenzte Reichweite hatte, da entweder die Schulen oder die Elternhäuser nur unzulänglich oder gar nicht über die hierfür erforderliche technische Ausstattung verfügten, was übrigens auch auf die besonders von Bildungspolitikerinnen und -politikern hoch gelobten Lernplattformen zutraf. Das bedeutete, dass insbesondere die sogenannten benachteiligten Schüler*innen wieder einmal das Nachsehen hatten, da sie von den vergleichsweise besten Möglichkeiten, neue oder (noch) unverstandene Sachverhalte erklärt zu bekommen, wochenlang abgeschnitten blieben. Daran änderte die einige Zeit später in etwas größerem Stil durchgeführte Tablet-Verteilaktion nur wenig, da viele der darauf angewiesenen Schüler*innen auch nicht über die im häuslichen Umfeld erforderlichen Voraussetzungen verfügten, zu denen (neben festen Tagesstrukturen und eigenen Arbeitsplätzen) nicht zuletzt die elterlichen/mütterlichen Unterstützungskapazitäten zu zählen sind.

Von allen sozial isolierten Kindern und Jugendlichen traf es diejenigen am härtesten, denen jeder elterliche Rückhalt fehlte und die zudem Gewaltexzessen oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. In diesen Fällen kam zum verwehrten Kontakt mit Gleichaltrigen auch noch die Unmöglichkeit hinzu, sich an Not- und Hilfsdienste wenden zu können, da diese (bis auf einige mutige Ausnahmen) ebenfalls geschlossen waren. Vor diesen und anderen schrecklichen Lockdown-Folgen haben viele Kinder- und Jugendverbände schon früh gewarnt. Als Beispiel sei die Deutsche Liga für das Kind genannt, die im April 2020 feststellte: »Vor allem betroffen sind Kinder in Familien, in denen die Beziehungen ohnehin angespannt sind,
in denen die Nerven der Eltern blank liegen, in denen die Eltern aufgrund wirtschaftlicher Sorgen nicht ansprechbar sind. Bei den von Armut betroffenen Familien kommt hinzu, dass nun auch noch die kostenfreie oder kostengünstige Essensversorgung in Kitas und Kindertagespflegestellen wegfällt.«


LEHRER HATTEN ANGST
VOR EIGENER ANSTECKUNG


Man kann nicht sagen, dass die von dieser Seite kommenden Warnrufe gänzlich ungehört verhallt wären, da sich sowohl die Kultusministerkonferenz (KMK) als auch etliche Bundesländer immer wieder für Schulöffnungen eingesetzt haben, aber ausgerechnet die Lehrerverbände sprachen sich (mit massiver Unterstützung des Online-Portals News4Teachers) vehement dagegen aus. Die von den Lehrerverbänden vorgetragenen Argumente gegen einen »Überbietungswettbewerb bei Schulöffnungen« (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2020) sind mit Blick auf das Maßnahmenchaos ein Stück weit nachvollziehbar, lassen aber jedes Verständnis für die schließungsbedingte große Not vieler Kinder und Jugendlicher vermissen. Die größte Sorge galt (und gilt) stattdessen dem eigenen und als hoch eingeschätzten Ansteckungsrisiko.

»LEHRER MELDETEN SICH TEILS SECHS
WOCHEN NICHT BEI IHREN KINDERN«

Ein anderes von den Lehrerverbänden vorgetragenes Argument bezieht sich auf die aus den Maßnahmen resultierende Mehrarbeit. Anzunehmen ist, dass dieser Hinweis tatsächlich auf viele Lehrer*innen zutrifft, aber es sind (vor allem in der Zeit der Schulschließungen) auch ganz gegenteilige Erfahrungen gemacht worden, was dem folgenden Zitat zu entnehmen ist, das einem mit Bernd Siggelkow (Gründer des Kinderund Jugendhilfswerks »Die Arche«) geführten Interview (Herrmann 2021)entstammt: »Diese Kinder hatten schon zu normalen Zeiten Schwierigkeiten, im Unterricht mitzukommen. Jetzt sind sie alleine. [...] Oft haben sie auch gar keinen Kontakt zu ihren Lehrern. Theoretisch müssten die Lehrkräfte jeden Tag bei jedem Kind anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen. Wir haben hier aber teilweise erlebt, dass sich Lehrer sechs Wochen bei ihren Kindern nicht gemeldet haben. Das war schon im ersten Lockdown so und wir merken auch beim zweiten Lockdown, dass sich die Kommunikation der Schulen mit den Kindern oft darauf beschränkt, dass Arbeitszettel abgeholt werden können. Oder dass mitgeteilt wird, wo die Kinder ihre Online-Aufgaben machen sollen.«

Je länger die völlig instabile Beschulungssituation andauerte, desto mehr nahmen nicht nur die (bis hin zum völligen Verlust bereits erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten reichenden) Lernrückschritte, sondern auch die psychosozialen Folgen zu, vor denen zahlreiche dem Kinder- und Jugendschutz verpflichtete Organisationen schon zu Beginn des ersten Schul-Lockdowns gewarnt hatten. Dennoch ließ sich das Bundesbildungsministerium mit der Vorlage eines sogenannten Aufholpaketes (Aktionsprogramm des Bundes »Aufholen nach Corona«) reichlich viel Zeit. Bei einer Umrechnung der angekündigten Gelder auf die (auch noch zunehmende) Anzahl der in der einen oder anderen Art unterstützungsbedürftigen Schüler*innen wird schnell deutlich, dass wir es bei diesem Angebot erneut mit einer für das deutsche Bildungswesen typischen Unterfinanzierung zu tun haben. (...)

In den insgesamt fast drei Monate umfassenden Schul-Lockdowns sowie in den dazwischen und danach liegenden (bis heute nicht beendeten) Wochen des ständigen Wechsels zwischen Präsenz- und Fernunterricht mit halbierten Lerngruppen und sich kontinuierlich verschärfenden Corona-Regeln (Maskentragen und Testdurchführungen) ist derart massiv gegen das Kindeswohl verstoßen worden, dass es bei den Schülerinnen und Schülern nicht nur zu Lernrückständen, sondern vor allem zu vielfältigen Entwicklungs- und Befindlichkeitsstörungen kam. Besonders schädlich wirkte sich die von den Kindern und Jugendlichen erwartete permanente Unterdrükkung ihrer Grundbedürfnisse (Kontakte mit Gleichaltrigen, Berührungen, Ausleben des Spiel- und Bewegungsdrangs) aus. Die Wiedergabe des zu diesem Thema geführten Gesprächs von Änne Seidel mit dem Neurobiologen Hüther (2021) kann nur als deutliche Warnung verstanden werden: »Um mit den andauernden sozialen Beschränkungen umgehen zu können, würden Bedürfnisse im Gehirn ›mit hemmenden Verschaltungen überbaut‹. Dadurch könne das Kind zwar mit der Beschränkung besser umgehen, es könne aber eben auch das Bedürfnis nicht mehr spüren. Dass Kinder Einschränkungen einhalten, sei daher nicht als positiver Umgang damit zu interpretieren.«

Zu den weitaus früher erkennbaren, aber deswegen nicht weniger besorgniserregenden Folgen der Corona-Maßnahmen gehören Erkrankungen und Symptome wie Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken, Phobien, Einsamkeits- und Ohnmachtsgefühle, anhaltende Traurigkeit, zunehmende Gereiztheit, Erschöpfung und Müdigkeit, Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit, Süchte, Antriebslosigkeit, Ess- und Zwangsstörungen. Kinderärzte stellten darüber hinaus auch etliche körperliche Folgen (heftige Bauch- und Kopfschmerzen oder zunehmende Fettleibigkeit) fest.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung des teilweisen oder sogar völligen Wegfalls aller Sicherheit verleihenden Rituale und Strukturen. Geburtstagsund Abschlussfeiern können nicht mehr in der gewohnten Form durchgeführt werden und selbst bei den noch stattfindenden Einschulungsfeiern müssen nicht-getestete Eltern draußen bleiben. Die unterrichtlichen Präsenzphasen erbrachten auch eine neue Variante des Schülermobbings. Kinder und Jugendliche, die (aus welchen Gründen auch immer) keine Maske tragen wollten, wurden von den Mitschüler*innen schnell als völlig verantwortungslos gebrandmarkt. In jüngster Zeit ist es im Falle einer Nichtbeteiligung an den Impfungen zu weiteren Stigmatisierungen dieser Art (Abstempelung als »Angsthasen«) gekommen, wobei die zur Gruppe der »Verweigerer« gehörenden Schüler*innen immer dann besonders leicht identifiziert werden konnten, wenn die Impfbusse direkt vor der Schule standen.


LEHRERVERBÄNDE LIESSEN
SICH FÜR AGENDA EINSPANNEN


Um die formulierte Frage zu den zukünftigen Bildungs- und Entwicklungschancen der jetzigen Schülergeneration erst einmal pauschal zu beantworten: Es sieht düster aus. Angesichts der sich abzeichnenden und durch die Verhängung der Corona-Maßnahmen systematisch vorangetriebenen Verengung des Bildungsverständnisses ist damit zu rechnen, dass die im heutigen Schulsystem aufwachsenden und von ihm geprägten Kinder und Jugendlichen als Erwachsene kaum noch die Kraft und Fähigkeit haben werden, sich dem dann schon weit fortgeschrittenen permanent kontrollierten Leben entgegenstellen zu können. Der Umstand, dass die Maßnahmen auch im Schulbereich eine derart destruktive Kraft entfalten konnten, lässt sich (zumindest vordergründig) am ehesten mit der über die Medien suggestiv ausgelösten (Ur-)Angst erklären, die (einschließlich der Lehrer*innen) von der Mehrheit der Bevölkerung Besitz ergriffen hat und die deshalb die schon früh erfolgten Hinweise auf das hier gegebene relativ geringe Gefährdungspotenzial nicht wahrhaben wollte.

Aller Voraussicht nach wird es dabei wohl noch eine ganze Weile bleiben, obwohl erst kürzlich erneut bestätigt wurde, dass junge Menschen weder große Virenlasten in sich tragen noch besonders infektionsanfällig beziehungsweise von schweren Krankheitsverläufen bedroht sind (vgl. Berlin Institute of Health 2021). Dessen ungeachtet sprachen sich insbesondere die Lehrerverbände immer wieder für eine Verlängerung oder gar Verschärfung der Maßnahmen aus. Vor diesem Hintergrund kam Michael Klundt (schon 2020!) zu dem Schluss, dass eine Kindeswohlgefährdung stattfand und massiv gegen die Kinderrechte verstoßen wurde. In einer Zusammenfassung dieser Befunde stellt Klundt fest, dass aus dem Kinderschutz ein Schutz vor Kindern geworden ist (vgl. Klundt 2020).

Die sachlich nicht zu rechtfertigende Fortsetzung der schulischen CoronaMaßnahmen wirft die Frage auf, in wessem Interesse die noch immer anhaltende Aussetzung der regulären Beschulungliegt. Eine der naheliegendsten Antworten hängt mit der beinahe allseits gewünschten Forcierung der Digitalisierung des Bildungswesens zusammen. Da viele Lehrer*innen anscheinend nicht ausreichend über die wahren Interessen der Computerindustrie und die daraus resultierenden (langfristig auch sie selbst betreffenden) Folgen informiert sind, werden sie sich im Anschluss an die weitgehend kritiklose Befolgung der Corona-Maßnahmen höchstwahrscheinlich ein zweites Mal gegen die natürlichen Bildungs- und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen einspannen lassen und sich der zunehmenden Algorithmisierung des Lernens und Kommunizierens nicht widersetzen. Spätestens dann ist der Weg frei für eine Vollendung der schon vor Jahrzehnten eingeleiteten neoliberalen Umformung unseres Bildungswesens. Der schon jetzt auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtete Bildungskanon wird über kurz oder lang auch die Kleinsten erwischen, denen dann (mit Hilfe »lustiger« Lernprogramme) schon in den Kindergärten beigebracht werden kann, dass sich der Wert eines Menschen am Grad der Leistungserbringung bemessen lässt.

Die durch die Maßnahmen tendenziell auch gegebene Chance einer konsequenten Abwendung von allen fremdbestimmten (Schul-)Interessen ist zu Lasten der Kinder und Jugendlichen bislang völlig versäumt worden, was sich nicht zuletzt an den überwiegend systemkonformen Ausgleichsvorschlägen ablesen lässt. Nun liegt es an uns, ob wir angesichts des schon längst auf Marktanpassung getrimmten Schulwesens eine weitere Beschneidung der Bildungs- und Entwicklungschancen unserer Kinder zulassen.






Dieser Text erschien in Ausgabe N° 90 am 13. Mai 2022




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