In Danny Boyle‘s Zombie-Drama »28 Days later« erwacht der Protagonist 28 Tage nach einem Fahrradunfall alleine in einem Krankenhaus und muss feststellen, dass eine Zombie-Virus-Epidemie alle Verbliebenen Einwohner Großbritannien in Zombies verwandelt hat. Wäre jemand in Berlin am 1. März 2020 für 28 Tage ins Koma gefallen und hätte am 28. März einen Spaziergang durch Berlin Mitte gemacht, so hätte sich ihm auch ein sehr befremdlicher Anblick offenbart.
Die Menschen haben sich zwar nicht in blutrünstige Zombies verwandelt, doch offenkundig sind sie von einer wahnhaften Hypochondrie befallen worden, die sie dazu anhält, Abstand zu halten und das Gesicht mit einer Maske zu bedecken. Am Rosa-Luxemburg-Platz angekommen, würde sich unserem Protagonisten eine skurrile Szenerie darbieten. Da versucht ein Grüppchen von Leuten, Grundgesetz-Exemplare an die vorbeiziehenden Passanten zu verteilen. Die in einem unverhältnismäßigen Aufgebot anwesende Polizei geht hierbei mit rabiaten Mitteln vor, um dies zu unterbinden. Was ist in dieser kurzen Zeit nur passiert, fragt sich unser Protagonist.
Aus diesen 28 Tagen wurden nun beinahe schon 28 Monate. In zwei Jahren hat sich unsere Gesellschaft, gar die ganze Welt in einer Weise verwandelt, wie wir es zuvor für unmöglich gehalten hätten. Der 28. März war der Auftakt der Demokratie-Bewegung hier in Deutschland. Vom Rosa-Luxemburg-Platz aus ging die frohe Botschaft durch das im ersten Niederschluss befindliche Land, dass eine Widerstandsbewegung geboren war. Angetreten, um unsere Verfassung gegen Schlechteres zu verteidigen und selbige auf Basis des Grundgesetzes in freien Volksentscheiden zu erneuern. Erneuern, als dass sie gegen jedwede Form eines zukünftigen Putsches fortan immun ist. Diesem Ziel hat sich die Demokratie verschrieben, der Weg hingegen ist noch lang. J etzt bist du, liebe Demokratiebewegung, schon zwei Jahre alt geworden. Gratuliert man dir zumGeburtstag, dann lacht das eine Auge, während das andere weint. Dein Dasein ist ein Tragisches. Tragisch ob der ambivalenten Gefühle, die man angesichts
deines Seins hat. Als Demokratie- und freiheitsliebender Mensch ist man deiner Existenz dankbar, doch zugleich erinnerst du uns immerzu an den Grund, der dein Dasein notwendig macht. Es ist der Putsch einer technokratischen und globalkapitalistischen Eliten-Clique, die alles Leben bis in den letzten Winkel dieses Erdenrunds kontrollieren möchte, die sich anschickt, die letzten Reste eines freiheitlich-demokratischen Geistes auszutreiben.
Darum bist du entstanden, liebe Demokratiebewegung. Du bist aus der Not heraus geboren, in einer Zeit, in der mit einem Male alles das in sich zusammenfiel, was wir Menschen für sicher, stabil und unverwüstlich hielten. Einer Zeit, in welcher sich der Horizont des Erwartbaren und Vorstellbaren meilenweit nach hinten verschoben hat und uns die Orientierung nahm. Dass nun schon zwei Kerzen auf deinem Kuchen brennen, macht uns deutlich, erinnert uns schmerzlich, wie weit bereits das Altbekannte, unsere AltenOr dnung zurück liegt. Diese zwei Kerzen sind Geburtstagskerzen und Grabkerzen zugleich. Vielleicht realisieren wir im Inneren mit Blick auf die zweizurückliegenden Jahre, dass wir schon fast vergessen haben, wie sich diese Freiheit anfühlt. Aber du, liebe Demokratiebewegung, erinnerst uns immer wieder daran, für was wir unentwegt friedlich rausgehen, die Faust heben und es mit alledem aufnehmen.
DURCH ALLE
HÖHEN UND TIEFEN
Und, hach ja! Was war das für ein zweites Jahr deines Daseins? Du hast dich – das muss man hier wirklich anerkennen – weiterentwickelt, bist gereift und größer geworden. Dabei schien es so, als sei dir im zweiten Jahr die Puste ausgegangen. Die Straßen leerten sich wieder. Viele Menschen widmeten sich dir nicht mehr mit der Beharrlichkeit, wie sie es im Niederschluss-Winter 2020/21 und dem vorangegangenen Sommer noch taten. Zu verlockend waren die zugestandenen Häppchen der rationierten »Freiheit« und die frischen Brisen desFrühlings und Sommers.
Doch mit den beiden Großdemos in Berlin des Augusts 2021 zeigtest du, dass du noch über freiheitliche Schlagkraft verfügst. Du als Bewegung bewiest Lenin post mortem, dass er falsch lag, als er zu Lebzeiten noch über die Deutschen spottete, sie würden keinen Bahnhof einnehmen, ehe sie sich ein Bahnsteigticket gezogen hätten. Was die Demokratiebewegungen in anderen, wesentlich weniger obrigkeitshörigen Ländern können, das kannst du mittlerweile auch.
So scherten die Demokraten sich nicht länger um die Demo-Auflagen und Verbote, die dir in Berlin auferlegt wurden. Auch deswegen, weil die Feiermeute des Regenbogen-Kults sich nur wenige Tage zuvor in den Straßen Berins – berechtigterweise – ungehindert bewegen konnte, wodurch die Auflagen nicht einer gewaltigen Doppelzüngigkeit entbehrten. So hast du zwei mal die Straßen Berlins mit der Fröhlichkeit der Menschen geflutet und damit den demokratisch in keinster Weise legitimierten Maßnahmenstaat bloß gestellt.
Doch im Herbst bist du dann irgendwie völlig aus der Puste geraten. Die Straßen waren leer wie schon lange nicht mehr, doch Gründe, auf die Straße zu gehen, gab es nach wie vor reichlich. Irgendwie warst du müde, erschöpft, von dem pausenlosen Ringen um Freiheit zermartert. Als man fast schon dachte, du würdest in den Winterschlaf gehen und vielleicht durch die narkotisierende Wirkung des Hygiene-Faschismus nie mehr erwachen, da entflammte in dir urplötzlich und wider allen Erwartens eine neue Flamme.
FRIEDEN, FREIHEIT,
SELBSTBESTIMMUNG
Da waren mit einem Male die Spaziergänge, die organisch und doch so plötzlich überall zu sprießen begannen. Von den großen Metropolen, über die Kleinstädte bis in das letzte Kuhkaff erwachte ein bis dahin nicht gekannter Geist. Die Menschen zogen Montag für Montag spazierengehend und ohne Anmeldung durch die Straßen. Anarchistische Ansätze und das inmitten des Landes, welches in penibles Recht, Ordnung und Bürokratie vernarrt ist.
Deine ersten Gehversuche, liebe Demokratiebewegung, wurden zu einem ersten wahrlich selbstbewussten, aufrechten Gang, der sich auch von Widerständen nicht so einfach umstoßen ließ. Du hast dich weiterentwickelt, liebe Demokratiebewegung. Du hast Fuß gefasst. Das Spazierengehen hat eine bisher nicht gekannte Kraft freigesetzt. Vielleicht setzt du nun an zum Spaziersprint.
Nicolas Riedl ist Journalist, Autor und Theaterwissenschaftler in München.