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Interview

»DIE FRONT SIND NUN DIE MENSCHLICHEN ANSICHTEN«

DW-Interview mit dem früheren Militäranalytiker der Roten Armee und heutigen Sprecher der Nachrichtenagentur ANNA, Professor Oberst Anatolij Andrejewitsch Matweijtschuk. | Von Ilja Ryvkin, Moskau

Von Ilja Ryvkin

Demokratischer Widerstand: Davon abgesehen, ob es so geplant war oder nicht, was hat Russland davon, in die Ukraine einzumarschieren?



Anatolij Andrejewitsch Matweijtschuk: Man muss sehen, dass es in der Ukraine seit Jahren einen Bürgerkrieg gibt. Dieser Bürgerkrieg spielt sich in den von der russischsprachigen Bevölkerung bewohnten Regionen ab. Diese verstehen sich als Russen und wollen ihre Sprache und ihre Kultur behalten. Ein anderer Teil der Bevölkerung spricht Ukrainisch und hat eine ukrainische Identität. Russland übernahm in der Situation die Verantwortung eines Schiedsrichters. Eine der Seiten, die als Luhansker und Donezker Republik bekannt sind, hat sich an Russland mit einem Hilferuf gewendet, da sie befürchten von den ukrainischen Nationalisten umgebracht zu werden – weil sie Russen sind.


Was sollten eigennützige Vorteile sein?

Es wohnen in der Ukraine vierzig Millionen Menschen. Falls wir das Land besetzen, müssen wir die Bewohner ernähren, kleiden, die Wirtschaft wiederherstellen. Dazu kommen noch wirtschaftliche Sanktionen. Wie könnte man diese schweren Aufgaben ohne Weiteres unter Sanktionen bewältigen? Abgesehen davon, kann es zu einer Konfrontation mit den Nato-Staaten kommen. Ich spreche in erster Linie nicht von einer militärischen Konfrontation. Eine wirtschaftlich-politische Konfrontation wäre alleine schon schlimm genug.


Der ukrainische Präsident sagte kurz vor Kriegsbeginn, dass er keinen russischen Einmarsch befürchte. Dennoch wurde in den westlichen Medien andauernd ein Einmarsch beschworen. Warum machten die das?

Die westlichen Eliten handeln entsprechend eigener wirtschaftlicher Interessen. Zur Zeit befinden sich die USA in einer tiefen finanziell-ökonomischen Krise. Die USA verlieren monatlich bis zu 25 Prozent des Nationalproduktes. Das ist nicht nur die Folge der sogenannten Pandemie, die Ursachen liegen in strukturellen Widersprüchen amerikanischer Innenpolitik. Das amerikanische Binnenland lebt von wirtschaftlicher Produktion, die Küste aber lebt vom Konsum. So verläuft die Spaltung auch zwischen den von Demokraten und Republikanern dominierten Staaten. Die Probleme sollen nach Europa ausgelagert werden. Kann man diese auf Deutschland auslagern? Man könnte das, aber Deutschland, auch zu Merkel-Zeiten, führt eine ausgewogene Politik, die unter anderem eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland beinhaltet. So wurde ein anderer Aufseher für den europäischen Großraum gefunden, Großbritannien. Von dort stammen die Vorwürfe gegen Russland. Die sind
weniger rein militärischen, sondern eher politischen Ursprungs.


Der Westen verlegt zunehmend Truppen in die Region. Handelt es sich in Ihren Augen um einen Einmarsch der Nato-Truppen in die Ukraine?

Wir beobachten, wie die Nato nach dem Jahr 1991 sich aktiv in Europa entfaltet. Früher haben sich die Nato-Kräfte auf das deutsche Bundesgebiet konzentriert. Der Rhein war die Konfrontationslinie zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato. Seitdem veränderte  sich auch Deutschland. Dort wuchs eine Antikriegsbewegung heran, die gegen die Nato-Präsenz gerichtet ist. So hat die Nato ein anderes Aufmarschgebietin Osteuropa gesucht und gefunden. Das sind Polen, die baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien. Diese sind bereit, entgegen eigener nationaler Interessen, die Nato-Interessen zu verteidigen. Wenn Russland die Zerstückelung oder eine totale militärische Niederlage droht, wird es sich von nichts abhalten lassen. Es wendet auch Atomwaffen an, um den Nato-Kräften einen maximalen Schaden zuzufügen. Ich glaube nicht, dass es zu einer direkten militärischen Konfrontation kommt.


Gibt es in Russland die Angst vor einem Einmarsch der Nato?

Ja, so eine Angst gibt es in Russland. Nicht vor so etwas Ähnlichem wie es im zweiten Weltkrieg gab, Panzerarmeen gegeneinander, das nicht. Russland befürchtet eine Destabilisierung der Situation an den eigenen Grenzen und die darauf folgende Übertragung der Instabilität auf das eigene Gebiet. Die Nato wird versuchen, gewisse Prozesse der Desintegration in Gang zu setzen. Davor haben wir Angst. Russland wird es nicht zulassen, sein eigenes Recht auf seinem integralen Raum zu verlieren. Auch nicht gegen seine eigenen Lebensinteressen, die geschichtlich gezeichnet sind. Ich meine damit die Geschichte des Zarenreiches, der Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation, des Areals, in dem Russland existiert.


Es gab die Überlegung, dass Russland der Nato beitritt. Was hätte dieser Beitritt für Russland, für die Europäische Union und auch die USA für Vorteile? Welche Nachteile sehen Sie?

Es gab zwei Versuche Russlands, der Nato beizutreten. Einmal, als die Nato sich konstituiert hat, und zum zweiten Mal in den Neunzigern. Dennoch folgte beide Male eine Absage, denn wenn Russland mit seinem militärischen und wissenschaftlichen Potenzial der Nato beitreten würde, würde es die Hegemonie der USA im Bündnis in Frage stellen. Es gab ein Projekt in den Neunzigern, den Plan, einen »Europanzer« auf Grundlage sowjetischer Baupläne in Deutschland zu entwickeln. Es stand auch im Gespräch, einen »Eurofighter« zu entwickeln. Das russische militärwissenschaftliche Potential ist unbestreitbar stark, besonders in den Bereichen der Raumfahrt und der Atomwaffen. Davon könnte ganz Europa profitieren. Die USA würde davon sowohl wirtschaftlichen und finanziellen, als auch politischen Schaden erleiden. So wird die USA nie damit einverstanden sein, Russland in die Nato aufzunehmen.

Nach 1990 war im Gespräch, dass eine neue »Sicherheitsarchitektur« in Europa aufgebaut werden sollte, die nicht mehr auf dem Denken in Blöcken aufbaut. Wie könnte so eine Sicherheitsarchitektur aussehen? Nach dem Zerfall der Sowjetunion, ging es darum, ein »großes Europa von Großbritannien bis Kamtschatka« zu etablieren. Damals hat man Russland als einen gleichwertigen Partner betrachtet. Leider veränderte sich die Lage, besonders seit dem Jahr 2008, als die Nato unmittelbar an die russische Grenze heranrücken wollte. Ich meine konkret die Ereignisse in Georgien, die den Anfang der Konfrontation setzten.


Ob das Thema immer noch aktuell ist?

Warum nicht? Erstmal muss Europa mit seinen eigenen souveränen Interessen ins Reine kommen. Das vereinigte Deutschland muss sich ebenso betrogen fühlen, da es nicht die versprochene Souveränität bekommen hat. Einen Abzug amerikanischer Truppen darf die deutsche Regierung nicht fordern. Sogar die finanziellen Schätze Deutschlands befinden sich in den USA, denn den Amerikanern liegt es nah, die Hand darauf zu haben. Auch Frankreich fühlt sich benachteiligt. Es sollte für Australien U-Boote herstellen, was nicht stattgefunden hat.

Dazu kommt als Letztes noch ein Projekt des damaligen Präsidenten Großbritanniens Winston Churchill, der schon im Jahre 1946 über die Vereinigten Angelsächsischen Nationen sprach. So solltenUSA, Großbritannien, Australien, Kanada und Neuseeland den Kern einer neuen Weltordnung bilden, die sich gegen Kontinentaleuropa, Russland und China stellt. Falls sich Europa mit Russland zusammenschließt, würden sie dazu einen Gegenpol bilden. Diese Ordnung würde den Interessen der meisten europäischen Völker entsprechen, mit der Ausnahme einiger Länder, die auf ihre eigene Souveränität verzichtet haben, zugunsten dessen, amerikanische Satelliten zu werden.


In einigen Kreisen werden gerade ernsthaft gewisse Prophezeiungen diskutiert. Nach diesen soll es 2022 einen überraschenden und sehr schnellen Vorstoß Russlands nach Westen geben, der auf der Höhe Kölns und Münchens zum Stehen kommt. Ich frage nicht ernsthaft, ob das jetzt wirklich bevorsteht, aber liegen solche Pläne vielleicht doch irgendwo in russischen Schubladen?

Nein, ich habe nie solche Karten gesehen, mehr noch: Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland nie solche Pläne geschmiedet. Sagen Sie bitte, wozu sollte Russland in das alte dicht besiedelte Europa eindringen? Russische Panzer und Raketen würden dieses alte hochentwickelte Europa zerstören.Und was dann? Das europäische Potential wiederherstellen, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg war? Es liegt uns viel näher, mit den europäischen Völkern wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Kredite nehmen und vergeben, Gas verkaufen, Kraftwerke bauen zugunstenunseres ganzen gemeinsamen europäisch-russischen Raumes. Die Geschichte lehrt: Wir wohnen zusammen, arbeiten zusammen, streiten, schließen wieder Frieden: Russen, Deutsche, Polen ... Es ergibt keinen Sinn für die Russen, unser gemeinsames Zuhause zu zerstören.


Daran anschließend die Frage: Wie würde das mittlere Europa– also Deutschland, die Benelux-Staaten, Polen, Österreich und Tschechien – in einem eskalierenden Konflikt zwischen der Nato und Russland betroffen sein? Gibt es Pläne bei den USA und Russland für einen sogenannten
»nuklearen Sperrkordon«?

Nein, leider gibt es heutzutage keine aktuellen Pläne dafür. Obwohl Russland es schon vorgeschlagen hat, die nuklearen Potentiale gegenseitig zu reduzieren, will die USA prinzipiell uns dabei nicht entgegenkommen. Ich nenne ein Beispiel: die Ramstein Air-Base in der Pfalz. Dort stationieren die Amerikaner Flugzeuge, die fähig sind mit taktischen Atomwaffen Russland anzugreifen. Was sich dort befindet, ist uns bekannt aus den Quellen der militärischen Intelligenz, eventuell auch von einigen europäischen Partnern, die nicht daran interessiert sind, dass die Atomwaffen sich dort weiterhin befinden.

Die Nato-Militärdoktrin: Die Nato ist demnach bereit, einen präventiven Schlag auf die Ziele in Russland durchzuführen. Laut der russischen Militärdoktrin kann darauf nur ein Vergeltungsschlag folgen. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Nato den Erstschlag tätigt und dann erst Russland mit einem Gegenschlag antwortet. Die Situation auf Ramstein wird sekundengenau aus Russland verfolgt. Falls dort die Entscheidung getroffen wird, einen Atomschlag zu tätigen, folgt dem unmittelbar ein Gegenschlag. Die beiden können sich sogar irgendwo in der Luft treffen und dann weiter ihre tödliche Aufgabe verfolgen. Es ist das Zentrum Deutschlands, das Zentrum Europas. Es gibt dort Wälder, Flüsse. Stellen wir uns einen Atomschlag auf diesem Gebiet vor: Im Umkreis von 30 Kilometern stirbt alles, sogar Ameisen, im Umkreis von 50 Kilometern wird noch hundert Jahre nichts wachsen, nicht einmal Gras. Das wäre eine nukleare Katastrophe für Europa.

Die gleiche Katastrophe wird auch in Russland passieren, dennoch müssen wir in Betracht ziehen, dass Russland über riesige Räume für jegliche Manöver und ebenso riesige Ressourcen verfügt. Europa hat diese nicht, es ist relativ klein und dicht besiedelt. Somit kann Europa zur Geisel einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen fremden Mächten werden, Russland und den USA. Anhand der Daten, die mir zur Verfügung stehen, befinden sich die amerikanischen nuklearen Waffen in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und in der Türkei. So kann praktisch das ganze Europa zu einer Zielscheibe für nukleare Schläge werden.


Im Kern der Europäischen Union, also in Frankreich und auch in Deutschland, haben immer mehr Menschen keine Lust mehr auf die transnationalen Strukturen EU und Nato. Welches Angebot machen Sie als sogenannter Kreml-naher Journalist und Militärexperte diesen Menschen Europas? Wie verbessert sich ihr Alltag durch eine Annäherung an Russland?

Die sogenannte transatlantische Einheit unter einem gemeinsamen »Sicherheitsschirm« hinterlässt schlimme Folgen für die Volkswirtschaften von Kontinentaleuropa. Zuerst beraubt sie die Europäer ihrer Souveränität. Diese Länder sind unfähig, eigene Strategien zu entwickeln. Sie tun es anhand des Nato-Blickwinkels, denn die Nato setzt die Grundrichtungen für ihre Politik. Die Nato fordert von den Mitgliedstaaten erhebliche Investitionen.

Sie haben es richtig bemerkt, es gibt in den Kernländern spürbare Kräfte, die meinen, sie bräuchten das alles nicht. Das neue Sicherheitssystem im 21. Jahrhundert braucht keine militärpolitischen Allianzen, eher wirtschaftliche Allianzen. So ist Russland bereit, sich den Europäern zur Seite zu stellen. Denken Sie an die russischen Bodenschätze: die Energieträger Nickel, Kobalt, seltene Metalle. Russland würde auf der Grundlage gegenseitigen Profits mit den europäischen Partnern Handel  betreiben. Ich würde mir vorstellen, dann würde Gas für den deutschen Endverbraucher keine 1.000 Euro pro 1.000 Kubikmeter mehr kosten. Dazu würde noch der Technologieaustausch kommen. So eine Zusammenarbeit würde dem ganzen Kontinent einen Schub geben.


In Deutschland werden Russland Menschenrechtsbrüche vorgeworfen. Es heißt, man solle deshalb auch in der Energieversorgung unabhängig von Russland sein und schloss deshalb erst vor Kurzem einen Deal mit dem Präsidenten von Aserbaidschan. Dem Land werden Kriegsverbrechen im Konflikt um die Region Bergkarabach vorgeworfen. Wie bewerten Sie diese Vorwürfe?

Erstmal zum Argument, dass falls Deutschland Gas aus Russland bezieht, es von Russland abhängig sei. Und wenn es das verflüssigte Gas aus Amerika beziehen würde, ist es dann von den USA abhängig? Natürlich ist Aserbaidschan ein bemerkenswertes Land. Das Verwaltungssystem dort ist recht autoritär. Die Vorwürfe, Aserbaidschan verübe Kriegsverbrechen kann ich nur bestätigen. Ich bin Zeuge davon. Dennoch fährt die Politik im amerikanischen Fahrwasser.

Amerika übt Druck auf Deutschland aus, Deutschland schließt Verträge mit Aserbaidschan ab. Dazu kommt aber die praktische Umsetzung: Wie ist es günstiger und sicherer? Die Gasleitung aus Russland wäre 700 bis 800 Kilometer lang, die Leitung aus Aserbaidschan wäre dagegen 2.000 Kilometer lang. Solch ein hochentwickeltes Land wie Deutschland kann das Gas nicht nur verbrauchen, sondern auch an andere europäische Länder weiterverkaufen. Es wäre für Deutschland nicht nur profitabel, sondern würde ihm auch eine zusätzliche Machtposition in Europa verleihen.


Und daran anschließend: Kennen Sie eine Situation, in der Präsident Putin vor den Helmen seiner getöteten Feinde posiert?

Falls Sie die Bilder von dem aserbaidschanischen Präsident Ilham Alijew meinen, nein, solche Bilder von Putin kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mich noch erinnern, als Putin zur Münchener Sicherheitskonferenz gefahren ist. Dort hat er gesagt, es sei kein Glück auf Kosten des Unglückes anderer Völker möglich. Er hat dabei perfekt Deutsch gesprochen, was zeigt, dass erein politisch und diplomatisch gebildeter Mensch ist, kein Barbar. Wenn er spricht, dann argumentiert er mit überprüfbaren Tatsachen.


Sie waren beim russischen Militär und Geheimdienst. Nun arbeiten Sie bei Anna-News. Ist diese Arbeit für Sie eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?

In der heutigen Zeit ist Information ein mächtiger Strom von Kenntnissen und Fähigkeiten. Als Offizier bin ich sehr diszipliniert, was mein Handeln angeht. All meine Taten dienen dazu, meinem Land, Russland, zu dienen. Daraus folgt nicht, dass ich die Information dazu benutze, anderen Menschen zu schaden. Ich will nur dazu beitragen, dass jeder den Überblick darüber bekommen kann, wovon er nicht in Kenntnis ist. Es passierte zum Beispiel auf dem Donbass der Genozid des russischen Volkes. Einige deutsche Politiker meinen dazu, das sei lächerlich. Ich kann nicht verstehen, was lächerlich daran sein soll, wenn Kinder und alte Leute umgebracht werden. Man sagt, es sei ein Befreiungszug der ukrainischen Armee gewesen. So bin ich in gewisser Weise immer noch an der Front, aber die Front sind nun die menschlichen Ansichten.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 81 am 04. März 2022




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