Unsere Kinder werden zu Digital- Junkies gemacht – und wir sollen es gut finden

»AB VOR DEN BILDSCHIRM«

Von Dr. Tamara Ganjalyan

Vielleicht gibt es Eltern, die sich noch erinnern an dieses andere Lebend, diese untergegangene Welt, die Äonen zurückliegt oder ein Jahr.

Damals, als ihre Kinder in der Freizeit etwas unternahmen, einen Wochenendausflug zum Beispiel oder mal ins Kindertheater gingen oder in den Zoo. Es war das, was man »normal« nannte, und normal war vor allem dies: Kinder, die mit Kindern spielen anstatt mit Konsolen, echte physische Begegnung statt dessen billigen digitalen Abklatsches in der schönen neuen Welt des Silicon Valley. Zu jener Zeit wurden die Kinderärzte, die Psychologinnen und sogar die Pädagogen in den Schulen und Kitas nicht müde, uns Eltern zu erzählen, dass Kinder Gleichaltrige bräuchten, den realen Austausch mit Ihresgleichen und dass soziale Beziehungen so enorm wichtig seien für die kindliche Entwicklung.

Wer damals, in dieser längst vergangenen Epoche, sein Kind länger als eine halbe Stunde pro Tag vor dem Fernseher sitzen ließ, setzte sich fast schon dem Verdacht prekärer familiärer Verhältnisse aus. Medienkonsum nur in strikter zeitlicher Begrenzung und mit elterlicher Begleitung, ansonsten: Bewegung an der frischen Luft und mit den Freunden auf den Spielplatz – dies alles galt bis März 2020. 

Seitdem ist auch und gerade die Welt der Kinder eine andere geworden. Eine kleinere und einsamere ist sie für viele. Hat man nicht gerade das Privileg, in einem Einfamilienhaus mit Garten oder in einer großen Altbauwohnung mit Dachterrasse zu residieren, spielt sich ein Großteil des Tages im Lockdown – wörtlich: Einschluss – zwischen Zimmer, Küche, Bad und fraglos bei vielen vor dem Bildschirm ab. Die Welt ist auf ein Mindestmaß zusammengeschrumpft. Das Leben kreist im Wesentlichen noch um basale körperliche Grundfunktionen: Essen, schlafen, verdauen, wieder schlafen. 

Alle anderen, um nichts weniger grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, die über die Sphäre des reinen Überlebens hinausgehen, werden derweil ins Virtuelle ausgelagert, in der Vorgaukelung eines gleichwertigen Ersatzes des Leibhaftigen. Kunst und Kultur, mitmenschliche Begegnung und nicht zuletzt auch Bildung sollen, so will es das hygienische Normativ, vom unreinen, da stets potenziell kontaminierten analogen Leben ins Internet übertragen werden.

KANN JA WEG...

Dass Schule nicht nur ein Ort der theoretischen Wissensvermittlung, sondern mindestens ebenso sehr auch ein Ort der Begegnung und des sozialen Lernens ist, scheint dabei schlichtweg keine Rolle mehr zu spielen. Ein bisschen Lesen-und-schreiben-Lernen geht vermeintlich auch auf dem Tablet, der puren Mattscheibe. Für Kontakte gibt es Social Media – da muss wohl an »kindgerechter Wohnungshaltung« genügen.

ROBBENPOSTER MIT MASKIERTEN KINDERN

Was medial in diese geschrumpfte Welt einsickert, wird einst in Museen ausgestellt sein, denkt die geschichtswissenschaftlich vorbelastete Mutter, vielleicht als Beispiel für Propaganda, die bei den Jüngsten ansetzt. Zum Beispiel jener musikalisch aufbereitete Clip mit hübsch animierten Bildern, der schon morgens um sieben im Kinderfernsehen belehrt, dass man auch brav die Regeln einzuhalten habe, »weil niemand Corona haben will«. Oder die Kinderzeitschrift mit süßem Robbenposter, die Comics mit maskierten Kinderfiguren bringt, deren Botschaft lautet: »Abstand halten, Maske tragen, Spaß dabei haben!« Die Frage nach dem »Und dann?« taucht hier nicht mehr auf.

Mit dem Infektionsvermeidungskult hat das Sicherheitsnarrativ, das fraglos bereits seit längerer Zeit Teile des öffentlichen Diskurses bestimmte, endgültig Einzug in die Kinderzimmer gehalten. In der virtuellen Ersatzwelt sind es weniger die Zufälle des unvorhersehbaren und immer mit dem unbekannten Risiko des Tödlichen behafteten Lebens aus Fleisch und Blut, welche den Rahmen des nicht nur Erfahrenen, sondern tatsächlich auch Er-lebten bilden.

In der Asepsis des Internets begegnen unsere Kinder vielmehr dem (von wem?) Erdachten, dem (wofür?) Aufbereiten in sicherer Entfernung zur unvollkommenen Biologie. Produkte krankhafter Digitalkonzerne werden auf diesem Weg zu den Orten, an denen sich Kindheit ausgestalten soll: Lernen auf Schoolfox, Freunde treffen auf Facebook, Abhängen auf Youtube. Das Cui bin?, wem nützt das alles, wäre freilich ein ketzerischer Gedanke.  

KINDERQUALEN UND DIE HAFTUNGSFRAGE

Wie aber werden Bedingungen des Heranwachsens wie die oben geschilderten unsere Kinder prägen? Werden etwa irgendwann die verpixelten Images auf Zoom das sein, was die Erwachsenen von morgen als ihre Kindheitsfreunde erinnern? Werden insbesondere jene, die als Einzelkinder durch diese Erfahrung gehen, die heutige Zeit als eine Form der Isolationshaft im Gedächtnis behalten? Sind wir gerade dabei, eine Generation heranzuziehen, deren Maß an Beziehungsfähigkeit sich an der Anzahl der erhaltenen Likes auf ein gepostetes Selfie bemisst?

Und werden Psychologen in einigen Jahren vom Lockdown-Syndrom sprechen, das in manchem dem durch extreme soziale Deprivation hervorgerufenen Kaspar-Hauser-Syndrom ähnelt? Wenn ja, dürfte die Frage nach der Haftung für solche erlittenen Schäden an Leib und Seele höchst spannend werden. 



DW-Redakteurin Tamara Ganjalyan ist promovierte Historikerin, Lektorin und Mutter. Dieser Originalbeitrag ist auch als Audio-Podcast auf dem Journalistenportal KenFM.de erschienen. 




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 35 am 29. Jan. 2021




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