Teil 1: — (DW N° 19)
Im Gefolge weltweiter Lockdown-Maßnahmen ist eine ökonomische Logik erkennbar. Der vordergründig wirr und verzweifelt wirkende staatliche Eingriff treibt ganze Branchen und viele eigentümergeführte Unternehmen in den Ruin, dient zugleich aber als Schrittmacher einer Wende menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes. Es ist mehr, als ein einfacher Zyklenwechsel von einer Abschwungin eine Aufschwungsphase nach durchstandener Krise erwarten lässt. Der Lockdown 2020 beschleunigt den Übergang vom Industriezeitalter in ein neues, kybernetisches Zeitalter im Sinne einer Mensch-Maschine-Verbindung.
Das auf Sars-CoV-2 getaufte Virus ist dafür in doppelter Hinsicht zu einem Instrument geworden. Mit den autoritär verfügten Maßnahmen zu seiner Eindämmung wurden einerseits der Staat oder besser: seine exekutiven Organe enorm gestärkt und andererseits neuen Leitbranchen der Weg geebnet. Nur diese enge Verbindung von Staat und Kapital ist in der Lage, historische Änderungen im Akkumulationsregime zu bewerkstelligen. Dass es ausgerechnet ein Virus bzw. – genauer – seine Bekämpfung war, die dies bewerkstelligen kann, ist kein Zufall. Denn zum einen stößt die herrschende ressourcenverschleudernde Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft an ihre Grenzen – auch im physischen Sinn. Die Zurückdrängung der Wildnis bei gleichzeitigem Vordringen der Massentierhaltung erleichtert viralen Erregern das Überspringen der Mensch-Tier-Schranke, sodass Seuchenbildungen häufiger werden. Zum anderen arbeitet der biotechnisch-pharmazeutische Komplex – wie sein erfolgreicher Vorgänger, der militärisch-industrielle Komplex – konsequent an seinem Aufstieg. Nun scheint der Durchbruch zu gelingen.
Von allergrößter Bedeutung dafür war, die Gefährlichkeit des Virus zu überhöhen, Angst und Panik zu verbreiten und damit möglichen Widerstand hintanzuhalten. Die Ortung des Feindes entspricht der eines Kriegsgeschehens, ausgerufen von der Politik und herbeigeschrieben von meinungsbildenden Medien. Als vielfach unterschätzte internationale Drehscheibe dieses Krieges muss die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geoutet werden, die sich in den vergangenen Jahrzehnten von einem internationalen Aufsichts- und Wachorgan zu einer Interessensvertretung pharmazeutischer Großkonzerne entwickelte.
VON DER VERWERTUNG DER ARBEITSKRAFT ZUR VERWERTUNG VON KÖRPER UND ERFAHRUNG
Der Weltwirtschaftskrise 2008 folgte eine lang andauernde Verwertungskrise des Kapitals. Ab Ende 2017 gingen die Produktionszahlen nach unten. Im Euro-Raum sank die industrielle Produktion im Dezember 2019, verglichen mit Dezember 2018, um 4,1 %, das gesamte Jahr 2019 brachte einen Einbruch von 1,7 % gegenüber 2018.1 Und in einem der wichtigsten alten Industriesektoren, der Automobilherstellung, war der Höhepunkt des Wachstums in den USA und Deutschland bereits 2016 und in China 2017 überschritten; ab 2018 ging es bergab. Mit anderen Worten: Der Industriekapitalismus steckte schon längere Zeit in der Krise, bevor der Lockdown diese in extremer Weise zuspitzte. Die Auftragslage der europäischen Industrie brach daraufhin in sich zusammen. In Deutschland sank sie zwischen Januar und April 2020 um unglaubliche 38 %. Weltweit verloren Hunderte Millionen Menschen ihre Arbeit. Und das Welternährungsprogramm der UNO schätzte bereits im April 2020, dass die Auswirkungen der Corona-Krise zu einer Verdopplung des Hungers in der Welt führen werden. In Menschenleben gerechnet: Statt der 135 Millionen Hungernden im Jahr 2019 wird deren Zahl auf 235 Millionen im Jahr 2020 ansteigen. Der Kapitalismus steckte seit 2008 in einer zyklischen Krise, die 2020 in nie zuvor dagewesener Art und Weise explodierte.
Grundsätzlich kommen als Lösung bei Verwertungskrisen des Kapitals drei Möglichkeiten infrage: Rationalisierung, Spekulation oder Markterweiterung. Rationalisierungen können mittels technischer Innovationen oder Kostensenkung durch Personaleinsparungen erfolgen. In die Sphäre der Spekulation weicht Kapital dann aus, wenn die sogenannte Realwirtschaft keine entsprechende Rendite verheißt. Markterweiterung findet in Form territorialer Expansion statt, die sowohl mittelsKriegoderdurchökonomischen Ausgriff – wie zuletzt im europäischen Kontext durch die EU-Osterweiterung – herbeigeführt werden kann. Markterweiterung spielt sich jedoch auch jenseits von Territorialitätsgewinn ab. Sie findet dann in zuvor nicht kapitalisierten Bereichen statt; im großen Stil geschieht das seit den 1990er-Jahren in der Daseinsvorsorge, wo zuvor ausschließlich staatlich oder gemeinschaftlich verwaltete Versicherungs- und Rentenmodelle sowie Gesundheit- und Pflegeeinrichtungen einer Privatisierung anheimfallen. Nun greift die Verwertung direkt auf den menschlichen Körper als solchen, sein Verhalten und seine Erfahrung zu.
In dieser Kommodifizierung von Körper und Erfahrung sehen wir eine kapitalistische Antwort auf die strukturelle Verwertungskrise. Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung eines Virus unterstützen diesen Umbruch, aus dem neue Leitsektoren hervorgehen. Historisch passend zur Transformation der Wachstumsmotoren und der kapitalistischen Aneignungsform steht die Welt vor einer geopolitischen Verschiebung vom transatlantischen Zentralraum hin zur chinesischen Dominanz, sei sie hegemonial oder in einem noch auszuhandelnden multipolaren Rahmen. Die chinesische Wirtschaftsdynamik gibt dabei den Takt an. Auch die enge Verzahnung von Staat und Kapital in der Phase der Herausbildung eines neuen Akkumulationszyklus, dessen Durchsetzung politisch autoritär begleitet wird, folgt dem Pekinger Vorbild.
Das bisher herrschende kapitalistische Gesellschaftsmodell fußt auf der menschlichen Arbeitskraft bzw. deren Ausbeutung. Ihre Aneignung über den Mehrwert gilt nicht nur in marxistischer Sichtweise als Schwungrad der Kapitalakkumulation, als Triebkraft des Profits. Im Zuge der kybernetischen Wende geraten zunehmend das menschliche Verhalten, seine Erfahrungen sowie der menschliche Körper in den Verwertungsprozess. Sie verbinden sich mit der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als Quelle der Aneignung und lösen diese in ihrer Bedeutung sukzessive ab.
MENSCHLICHES VERHALTEN ALS VERWERTBARER ROHSTOFF
Die schiere Datenmenge, die jede und jeder von uns tagtäglich über digitale Kanäle an deren Betreiber liefert, bilden den Rohstoff, aus dem ein neuer Akkumulationsschub entsteht. Gratis und »freiwillig« bzw. per Androhung des Ausschlusses aus gesellschaftlichen Bereichen entstehen bei jeder Kommunikation im Netz menschliche Profile, die milliardenfach zusammengeschnürt hohe Profitraten versprechen und damit dem Kapitalismus einen Weg aus der Krise weisen. Zwar existiert dieses Geschäftsmodell, bei dem entsprechende Datensammler wie Google oder Facebook monopolartig agieren, bereits seit 15 bis 20 Jahren; doch im Zustand des Corona-Lockdowns hat sich die Datenablieferung vervielfacht und beschleunigt. Online-Käufe, Bestelldienste, Kommunikationsplattformen und digitale Bezahlsysteme konnten durch Ausgangssperren und Distanzgebote einen staatlich verordneten Anschub verbuchen, der – den Umständen entsprechend – als alternativlos dargestellt wurde. Auch im Homeoffice, auf Videokonferenzen und beim digitalen Lernen und Lehren brummte das Geschäftsmodell der Datensammler. So wurde den Menschen ein Verhalten aufgezwungen, bei dem sie notgedrungen Bedürfnisse, Erfahrungen und Verhaltensweisen offenlegen. Diese sind der Rohstoff für ein neues Akkumulationsmodell, das auch nach dem Einüben im Lockdown den Post-Corona-Alltag bestimmen wird.
Der Plattform-Kapitalismus verwandelt Erfahrungswissen in Marktwissen und Kontrollwissen. Das durch die Auswertung von Verhaltens- und Nachfragedaten entstandene Wissen über die NutzerInnen bietet die Grundlage zur Entwicklung von neuen Produkten und und personalisierten Angeboten, die maßgeschneidert an Bedürfnisse angepasst werden. Die Erfahrungen von Hunderten Millionen Menschen dienen im Plattform-Kapitalismus zur Kommodifizierung, das heißt Verhaltensweisen werden in Ware umgesetzt, die gezielt an Unternehmen (oder auch an Einzelkunden) verkauft wird. Die gelieferten Daten haben aber noch eine weitere Funktion. Sie dienen der Kontrolle im Sinne von individueller und gesellschaftlicher Optimierung, angefangen vom Wohlergehen des Einzelnen über die Volksgesundheit bis zur totalen Überwachung. »Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung«, schreibt dazu die US-amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff.