Schon einmal Kater gehabt? Am Morgen aufgewacht im größtmöglichen Kontrast zur Ich-könnte-die-ganzeWelt-umarmen-Stimmung nur Stunden zuvor: elend, reumütig und mies?
Was dann hilft, so der Volksbrauch, ist
neben Aspirin und sauren Gurken ein
Stück Hering, in seiner geräucherten
Form Bückling genannt. Im Norden
Europas gern verzehrte Kaltspeise,
leitet sich sein Name vom niederdeutschen bückinc her, eine Referenz auf
seinen beim Verzehr verbreiteten Gestank.
Und tatsächlich, so könnte man böse
meinen, stinkt es derzeit an vielen
Ecken und Enden des gesellschaftlichen Lebens in diesem Land gewaltig. Kritik wird im öffentlichen Diskurs weitgehend verschwiegen oder,
wo dies nicht (mehr) möglich ist, geächtet. Es herrscht das Diktat der Alternativlosigkeit, durchgereicht und
nachgebetet vom Bundeskanzleramt
bis hinunter in die Kommunalpolitik,
hinein in Schulen und Kindergärten,
Freundeskreise und Familien. Hocheffizientes Instrument des einzig legitimen Narrativs – natürlich – die
Medien, die sich gerne »Qualität« auf
ihre Fahnen schreiben und schon mal
sich selbst mit Preisen ehren angesichts ihrer vorbildhaften weil alleinwahren Anordnungsweitergabe namens »Journalismus« in Zeiten von
Corona.
Was sich hier auftut, das ist ein in
sich geschlossenes Universum, mit
eigenen Gesetzmäßigkeiten, mit eigener Logik, ein um sich selbst und um
die eigenen »Wahrheiten« kreisender Kosmos. Doch schockierend und
letztlich so zutiefst desillusionierend
ist nicht, dass öffentlich-rechtliche
wie private Massenmedien tun, was
sie tun – denn dies ist im Jahr 2020
nichts gänzlich anderes als das, was
sie schon die letzten Jahre taten, auch
wenn es derzeit in ganzer Unverfrorenheit und Plumpheit daherkommt
und damit jedem, der sich ansatzweise
um einen kritisch-distanzierten Blick
bemüht, spöttisch ins Gesicht spuckt.
Nein, das eigentlich Skandalöse ist,
wie gut es funktioniert.
AUTORITÄRE CHARAKTERE
Wie oft wurde sie beschworen und gefeiert, die sogenannte Informationsgesellschaft? Wissen für jedermann
und jede Frau, frei zugänglich dank
der aufklärerischen Segnungen des
Internets, das uns alle gleich mache
vor dem ungehinderten Zugang zum
Wissensbestand der Menschheit, und
im Epizentrum einer aufstrebenden
neuen Welt: er, der emanzipierte, der
informierte, der mündige Mensch des
21. Jahrhunderts!
Was ist davon
geblieben?
Sind wir
tatsächlich so
viel aufgeklärter, besser informiert,
kritischer und
wissender als unsere
Vorfahren in Zeiten von
Flugblättern und Volksempfängern? Zweifel erscheinen angebracht. Natürlich
gibt es sie, all die Informationen
und Korrektive, die wissenschaftlichen Studien, die blanken Fakten und
auch die abweichenden Meinungen
– irgendwo da draußen in den Weiten des WWW. Doch sie existieren
allenfalls als Hintergrundrauschen,
das den Tagesschauseher nicht weiter
zu beunruhigen hat. Alles Verschwörungstheorie, weil darum.
In einem Video auf seinem Youtube-Kanal sinniert der Philosoph
und Schriftsteller Gunnar Kaiser über
die Frage des Gehorsams. Was ist es,
so fragt er sich, das uns Menschen so
gehorsam macht? Ist es, wie der Psychologe Barry Schwartz meint, die
Überforderung durch eine Vielzahl an
Auswahlmöglichkeiten, die uns Stress
bereitet und zudem immer das Risiko
von Fehlentscheidungen in sich trägt,
die uns Beschränkung in der Wahlfreiheit nachgerade als Befreiung
erleben lässt? Oder ist es, dem Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz
zufolge, das Falsche Selbst, geboren
aus mangelnder Liebeserfahrung in
der Frühkindheit, das durch Überanpassung an eine normopathische Gesellschaft verzweifelt versucht, dazuzugehören und alles abwehren muss,
was an die Falschheit dieses Selbst erinnern könnte?
VOLKSEMPFÄNGERWAHRHEIT
Kaiser endet mit einer eigenen These,
der gemäß pathologisierende Erklärungsansätze der Phänomene Konformität und Nonkonformität möglicherweise unzutreffend sind. Letztlich
seien wir alle gehorsam, wenn auch in
unterschiedlichem Ausmaß. Entscheidend für die Bereitschaft, Regeln zu
befolgen, sind ihm zufolge drei Faktoren: die Einsicht in die Sinnhaftigkeit
der Regel, geringe durch das Befolgen
der Regel entstehende Kosten für den
Einzelnen sowie die gerechte Verteilung der Regel in der Gemeinschaft
– kurz, dass sich alle gleichermaßen
daran halten müssen.
Ob wir uns in einer gegebenen Situation gehorsam oder ungehorsam verhalten, beruhe auf unserer individuell
und situativ je unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaft, den Regelsetzern zu vertrauen oder zu misstrauen
und damit die Legitimität der Regeln
anzunehmen.
Ein Punkt, den Gunnar Kaiser in diesem Zusammenhang zwar nennt, aber
nicht dezidiert behandelt, und der
mir ganz entscheidend scheint für
das Maß an Bereitschaft zu vertrauen,
ist die Frage des jeweiligen Informationsstandes des Einzelnen.
Wer etwa die Information erhält:
»Mundschutzmasken schützen mich und andere vor
Infektionen« und diese
Information für glaubwürdig beurteilt, der
wird verständlicherweise eher bereit sein,
der Anordnung, selbige im
öffentlichen Raum zu tragen,
Folge zu leisten. Wer hingegen die Information erhält und sie als glaubwürdig einschätzt: »Einfache OP- oder
Stoffmasken sind für den Schutz vor
Virusinfektionen nicht geeignet und
können im schlechtesten Fall gesundheitsschädlich sein«, dessen emotionale und Verhaltensreaktion auf
dieselbe Anordnung wird vermutlich
sehr verschieden sein.
Erscheint die Anordnung der Maskenpflicht im ersten Fall als sinnhaft
und zweckmäßig, wird sie im zweiten
Fall als sinnlos und willkürlich empfunden. In der Tat existieren ja beide Behauptungen und die Vertreter
beider Positionen führen dafür mehr
oder weniger plausible und belastbare
Argumente ins Feld. Das entscheidende Problem aber ist, dass der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung
– trotz Internet, trotz »Wissensgesellschaft« und so weiter – nur eine Position bekannt ist, nur eine Sichtweise
als legitim und »wahr« präsentiert
wird: die Sichtweise der Regierung
eben. Auch wenn sich diese schon mal
um 180 Grad wendet. Egal, fällt ja niemandem auf!
Und während diese offizielle Lesart
uns, in Form von Rundfunkbeiträgen
bereits vorfinanziert, quasi 24/7 frei
Haus geliefert wird, muss man nach
abweichenden und kontrastierenden
Informationen in aller Regel schon
selbst auf die Suche gehen. Das setzt
freilich ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Aktivität, aber auch an Zeit
voraus. Zudem wird eine solche Suche
nach alternativen Medieninhalten zunehmend erschwert und behindert,
wie uns Praktiken der Zensur auf den
bekannten Online-Plattformen tagtäglich vor Augen führen.
So sind die interessensgeleitete Einseitigkeit der Massenmedien und deren verkürzte, lückenhafte und nicht
selten manipulative Berichterstattung
wichtige Grundlagen unseres Gehorsams, unseres schier blinden Vertrauens in »Experten«, in jene, die es »ja
nur gut meinen« mit uns und uns ganz
selbstlos schützen und führen.
Und so sind die Bücklinge, ehedem
zuvorderst in den Kühlfächern der Supermärkte und auf den Tellern einiger
Zuvielfeiernder anzutreffen, dabei,
das öffentliche Leben in der Bundesrepublik zu prägen.
Doch in Wahrheit ist dies keine wirklich neue Entwicklung, auch wenn
sie sich seit einigen Monaten in ihrer
bigottesten, selbstverliebtesten und
empathielosesten Variante präsentiert. In Wahrheit stellten die Bücklinge schon immer die Mehrheit.
Ausschlaggebend dafür ist wohl die
in allen Gesellschaften zu allen Zeiten der Geschichte geltende Tatsache,
dass Gehorsam und Mitläufertum
nicht zu unterschätzende Vorteile zu
bieten haben.
GEHORSAM ENTSPANNT
Sie entlasten den Einzelnen von einem guten Stück dieser stets lästigen
und oft nur schwer zu (er)tragenden
Verantwortung für das eigene Tun
und Lassen, da es ja andere sind, die
die Entscheidungen für einen getroffen haben und man selber nur tut, was
einem geheißen wird. Sie mildern kognitive Dissonanz, die entsteht, wenn
zwei miteinander unvereinbare Wahrnehmungen oder Informationen ein
Unbehagen auslösen, dass durch die
Ausblendung, durch die Leugnung
oder Verdrängung dessen, was nicht
sein kann, weil es nicht sein darf,
scheinbar überwunden wird. Sie schaffen Gemeinschaft und Zugehörigkeit
sowie ein Gefühl der Rechtschaffenheit desjenigen, der die Regeln einhält
und der das Spiel mitspielt. Sie bieten
den Schutz der anonymen Masse, des
Untertauchens in die große Menge der
Jasager, die sich nicht zu rechtfertigen
hat, die sich nicht angreifbar macht,
die sich nicht zu erklären braucht.
Geben wir uns also keinen selbstgerechten Illusionen hin: Wir alle sind Bücklinge, Angepasste, Jasager. Die meiste
Zeit unseres Lebens, in den meisten
Situationen unseres Alltags. Und unter »normalen« Umständen zu »normalen« Zeiten muss dies auch in den
meisten Fällen gar nicht schlecht sein.
Ohne ein gewisses Maß an Gehorsam,
an Bücklingshaftigkeit könnte wohl
kein menschliches Gemeinwesen, geschweige denn eine komplexe, arbeitsteilige Gesellschaft von Abermillionen
Individuen, auf Dauer funktionieren.
Die entscheidende Frage aber ist, ob Bückling für das Frühstück, dass uns für den Kater nach Grundrechtseinschränkungen, Mediengleichschaltung, Kritikerdiffamierung, Ausbau staatlicher Überwachungsmaßnahmen, drohendem Wirtschaftskollaps und zu erwartenden sozialen Unruhen serviert wird, wirklich die richtige Diät ist.
Dr. Tamara Ganjalyan ist Expertin
für Minderheiten im Exil.