DIE BÜCKLINGE

Eine Analyse des Gehorsams unter Corona

Von Dr. Tamara Ganjalyan

Schon einmal Kater gehabt? Am Morgen aufgewacht im größtmöglichen Kontrast zur Ich-könnte-die-ganzeWelt-umarmen-Stimmung nur Stunden zuvor: elend, reumütig und mies?

Was dann hilft, so der Volksbrauch, ist neben Aspirin und sauren Gurken ein Stück Hering, in seiner geräucherten Form Bückling genannt. Im Norden Europas gern verzehrte Kaltspeise, leitet sich sein Name vom niederdeutschen bückinc her, eine Referenz auf seinen beim Verzehr verbreiteten Gestank. 

Und tatsächlich, so könnte man böse meinen, stinkt es derzeit an vielen Ecken und Enden des gesellschaftlichen Lebens in diesem Land gewaltig. Kritik wird im öffentlichen Diskurs weitgehend verschwiegen oder, wo dies nicht (mehr) möglich ist, geächtet. Es herrscht das Diktat der Alternativlosigkeit, durchgereicht und nachgebetet vom Bundeskanzleramt bis hinunter in die Kommunalpolitik, hinein in Schulen und Kindergärten, Freundeskreise und Familien. Hocheffizientes Instrument des einzig legitimen Narrativs – natürlich – die Medien, die sich gerne »Qualität« auf ihre Fahnen schreiben und schon mal sich selbst mit Preisen ehren angesichts ihrer vorbildhaften weil alleinwahren Anordnungsweitergabe namens »Journalismus« in Zeiten von Corona.

Was sich hier auftut, das ist ein in sich geschlossenes Universum, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, mit eigener Logik, ein um sich selbst und um die eigenen »Wahrheiten« kreisender Kosmos. Doch schockierend und letztlich so zutiefst desillusionierend ist nicht, dass öffentlich-rechtliche wie private Massenmedien tun, was sie tun – denn dies ist im Jahr 2020 nichts gänzlich anderes als das, was sie schon die letzten Jahre taten, auch wenn es derzeit in ganzer Unverfrorenheit und Plumpheit daherkommt und damit jedem, der sich ansatzweise um einen kritisch-distanzierten Blick bemüht, spöttisch ins Gesicht spuckt. Nein, das eigentlich Skandalöse ist, wie gut es funktioniert.

AUTORITÄRE CHARAKTERE

Wie oft wurde sie beschworen und gefeiert, die sogenannte Informationsgesellschaft? Wissen für jedermann und jede Frau, frei zugänglich dank der aufklärerischen Segnungen des Internets, das uns alle gleich mache vor dem ungehinderten Zugang zum Wissensbestand der Menschheit, und im Epizentrum einer aufstrebenden neuen Welt: er, der emanzipierte, der informierte, der mündige Mensch des 21. Jahrhunderts!

Was ist davon geblieben? Sind wir tatsächlich so viel aufgeklärter, besser informiert, kritischer und wissender als unsere Vorfahren in Zeiten von Flugblättern und Volksempfängern? Zweifel erscheinen angebracht. Natürlich gibt es sie, all die Informationen und Korrektive, die wissenschaftlichen Studien, die blanken Fakten und auch die abweichenden Meinungen – irgendwo da draußen in den Weiten des WWW. Doch sie existieren allenfalls als Hintergrundrauschen, das den Tagesschauseher nicht weiter zu beunruhigen hat. Alles Verschwörungstheorie, weil darum.

In einem Video auf seinem Youtube-Kanal sinniert der Philosoph und Schriftsteller Gunnar Kaiser über die Frage des Gehorsams. Was ist es, so fragt er sich, das uns Menschen so gehorsam macht? Ist es, wie der Psychologe Barry Schwartz meint, die Überforderung durch eine Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten, die uns Stress bereitet und zudem immer das Risiko von Fehlentscheidungen in sich trägt, die uns Beschränkung in der Wahlfreiheit nachgerade als Befreiung erleben lässt? Oder ist es, dem Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz zufolge, das Falsche Selbst, geboren aus mangelnder Liebeserfahrung in der Frühkindheit, das durch Überanpassung an eine normopathische Gesellschaft verzweifelt versucht, dazuzugehören und alles abwehren muss, was an die Falschheit dieses Selbst erinnern könnte? 

VOLKSEMPFÄNGERWAHRHEIT

Kaiser endet mit einer eigenen These, der gemäß pathologisierende Erklärungsansätze der Phänomene Konformität und Nonkonformität möglicherweise unzutreffend sind. Letztlich seien wir alle gehorsam, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Entscheidend für die Bereitschaft, Regeln zu befolgen, sind ihm zufolge drei Faktoren: die Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Regel, geringe durch das Befolgen der Regel entstehende Kosten für den Einzelnen sowie die gerechte Verteilung der Regel in der Gemeinschaft – kurz, dass sich alle gleichermaßen daran halten müssen.

Ob wir uns in einer gegebenen Situation gehorsam oder ungehorsam verhalten, beruhe auf unserer individuell und situativ je unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaft, den Regelsetzern zu vertrauen oder zu misstrauen und damit die Legitimität der Regeln anzunehmen.

Ein Punkt, den Gunnar Kaiser in diesem Zusammenhang zwar nennt, aber nicht dezidiert behandelt, und der mir ganz entscheidend scheint für das Maß an Bereitschaft zu vertrauen, ist die Frage des jeweiligen Informationsstandes des Einzelnen.

Wer etwa die Information erhält: »Mundschutzmasken schützen mich und andere vor Infektionen« und diese Information für glaubwürdig beurteilt, der wird verständlicherweise eher bereit sein, der Anordnung, selbige im öffentlichen Raum zu tragen, Folge zu leisten. Wer hingegen die Information erhält und sie als glaubwürdig einschätzt: »Einfache OP- oder Stoffmasken sind für den Schutz vor Virusinfektionen nicht geeignet und können im schlechtesten Fall gesundheitsschädlich sein«, dessen emotionale und Verhaltensreaktion auf dieselbe Anordnung wird vermutlich sehr verschieden sein.

Erscheint die Anordnung der Maskenpflicht im ersten Fall als sinnhaft und zweckmäßig, wird sie im zweiten Fall als sinnlos und willkürlich empfunden. In der Tat existieren ja beide Behauptungen und die Vertreter beider Positionen führen dafür mehr oder weniger plausible und belastbare Argumente ins Feld. Das entscheidende Problem aber ist, dass der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung – trotz Internet, trotz »Wissensgesellschaft« und so weiter – nur eine Position bekannt ist, nur eine Sichtweise als legitim und »wahr« präsentiert wird: die Sichtweise der Regierung eben. Auch wenn sich diese schon mal um 180 Grad wendet. Egal, fällt ja niemandem auf!

Und während diese offizielle Lesart uns, in Form von Rundfunkbeiträgen bereits vorfinanziert, quasi 24/7 frei Haus geliefert wird, muss man nach abweichenden und kontrastierenden Informationen in aller Regel schon selbst auf die Suche gehen. Das setzt freilich ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Aktivität, aber auch an Zeit voraus. Zudem wird eine solche Suche nach alternativen Medieninhalten zunehmend erschwert und behindert, wie uns Praktiken der Zensur auf den bekannten Online-Plattformen tagtäglich vor Augen führen.

So sind die interessensgeleitete Einseitigkeit der Massenmedien und deren verkürzte, lückenhafte und nicht selten manipulative Berichterstattung wichtige Grundlagen unseres Gehorsams, unseres schier blinden Vertrauens in »Experten«, in jene, die es »ja nur gut meinen« mit uns und uns ganz selbstlos schützen und führen.

Und so sind die Bücklinge, ehedem zuvorderst in den Kühlfächern der Supermärkte und auf den Tellern einiger Zuvielfeiernder anzutreffen, dabei, das öffentliche Leben in der Bundesrepublik zu prägen.

Doch in Wahrheit ist dies keine wirklich neue Entwicklung, auch wenn sie sich seit einigen Monaten in ihrer bigottesten, selbstverliebtesten und empathielosesten Variante präsentiert. In Wahrheit stellten die Bücklinge schon immer die Mehrheit. Ausschlaggebend dafür ist wohl die in allen Gesellschaften zu allen Zeiten der Geschichte geltende Tatsache, dass Gehorsam und Mitläufertum nicht zu unterschätzende Vorteile zu bieten haben.

GEHORSAM ENTSPANNT

Sie entlasten den Einzelnen von einem guten Stück dieser stets lästigen und oft nur schwer zu (er)tragenden Verantwortung für das eigene Tun und Lassen, da es ja andere sind, die die Entscheidungen für einen getroffen haben und man selber nur tut, was einem geheißen wird. Sie mildern kognitive Dissonanz, die entsteht, wenn zwei miteinander unvereinbare Wahrnehmungen oder Informationen ein Unbehagen auslösen, dass durch die Ausblendung, durch die Leugnung oder Verdrängung dessen, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf, scheinbar überwunden wird. Sie schaffen Gemeinschaft und Zugehörigkeit sowie ein Gefühl der Rechtschaffenheit desjenigen, der die Regeln einhält und der das Spiel mitspielt. Sie bieten den Schutz der anonymen Masse, des Untertauchens in die große Menge der Jasager, die sich nicht zu rechtfertigen hat, die sich nicht angreifbar macht, die sich nicht zu erklären braucht.

Geben wir uns also keinen selbstgerechten Illusionen hin: Wir alle sind Bücklinge, Angepasste, Jasager. Die meiste Zeit unseres Lebens, in den meisten Situationen unseres Alltags. Und unter »normalen« Umständen zu »normalen« Zeiten muss dies auch in den meisten Fällen gar nicht schlecht sein. Ohne ein gewisses Maß an Gehorsam, an Bücklingshaftigkeit könnte wohl kein menschliches Gemeinwesen, geschweige denn eine komplexe, arbeitsteilige Gesellschaft von Abermillionen Individuen, auf Dauer funktionieren.

Die entscheidende Frage aber ist, ob Bückling für das Frühstück, dass uns für den Kater nach Grundrechtseinschränkungen, Mediengleichschaltung, Kritikerdiffamierung, Ausbau staatlicher Überwachungsmaßnahmen, drohendem Wirtschaftskollaps und zu erwartenden sozialen Unruhen serviert wird, wirklich die richtige Diät ist. 


Dr. Tamara Ganjalyan ist Expertin für Minderheiten im Exil.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 10 am 26. Juni 2020




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