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Kommentar

Eine persönliche Annäherung

ANKUNFT IN MINSK

Von Ilia Ryvkin

Seit Donnerstag, den 10.09.2020 hat der Demokratische Widerstand einen Auslandskorrespondenten in Belarus. Er wird in den kommenden Wochen berichten, was sich in dem Land ereignet. Die weißrussische Regierung hatte sich einen eigenen Umgang mit dem Corona-Virus vorbehalten. Der Westen unterstützt nun die dortige Oppositionsbewegung, welche ohne Mundschutz für die Grundrechte eintritt. 



DIE LANDUNG


Der bedeutendste Politexperte in Osteuropa ist der Taxifahrer. Der Kollege Iwan ist mit meiner Wahl des Hotels unzufrieden. Es gebe eines zu den gleichen Konditionen, aber in einer besseren Lage, schön mittig. Dort könnte ich auch abends ausgehen.

»Sind Clubs wegen Quarantäne nicht geschlossen?«

»Quarantäne? Von wegen!«

»Alle Clubs und alle Theater sind also offen?«

»Einige Theater sind zu, aber nicht wegen Quarantäne...« - antwortet der Taxifahrer und schweigt andeutend.


Der Rasen zwischen den Fahrbahnen ist grün wie in Frühling und ordentlich gemäht. Wir passieren den Hightech-Park. Seit meinem letzten Besuch sind viele Wolkenkratzer gebaut worden. »Ja.«, sagt der Taxifahrer, »Der Staat hat Baukredite zu fünf Prozent vergeben. Der Immobilienmarkt boomt.«


Der Weg verläuft durch nördliche Vororte, die sehen dörflich aus, märchenhaft und zart, wie von Marc Chagall gemalt. Ihnen folgen die Stadtteile aus der Zeit sowjetischen Bauens. Im Gegensatz zu manchen Nachbarländern wird das sowjetische Erbe in Belarus gepflegt. Ja, ist zum staatsstiftenden Mythos geworden. Eine barbarisch marktradikale Desowjetisierung erscheint hier keine zwingende Bedingung des Fortschritts zu sein.


INTERHOTEL


Bald sind wir am von Iwan vorgeschlagenen Hotel angekommen. Alle Inschriften darin sind in drei Sprachen verfasst: Russisch, Englisch, Chinesisch.


Apropos Chinesen, fast nur sie tragen Masken. Gut, auch manche Weißrussen, vielleicht ein Prozent. Auf der Straße sind kaum Bettler oder ärmlich gekleidete Menschen zu sehen, Glitz und Glamour sind auch selten. Haltung. Höflichkeit. Sauberkeit.


Am Abend nehme ich wieder ein Taxi für umgerechnet nicht mal drei Euro Richtung Allee der Unabhängigkeit, wo was los sein muss. Mir entgegen passiert eine Prozession der Regierungstreuen, so um die siebzig Personen mit rot-grünen Staatsfahnen, roten Bannern und schwarz-orange gestreiften Flaggen der Volksbefreiungsbewegung. Vorne weg, als Avantgarde, marschieren vollbärtige Typen, ein russisch-orthodoxes Prozessionskreuz und ein Großporträt des Präsidenten tragend. Nach einer Viertelstunde folgt ihnen eine Schar dunkler Frauengestalten mit Kerzen in den Händen, den Rosenkranz murmelnd. Eine Madonna-Statue ist Mitte der Prozession. Dem römisch-katholischen Erzbischof von Belarus Tadeusz Kondrusiewicz wurde die Einreise ins eigene Land verwehrt. Ob das Einreiseverbot rechtskonform sei, wird noch überprüft, so Lukaschenko.


Als ich zum Platz der Unabhängigkeit gelange, wurde die Kundgebung von dreißig Regierungskritikern bereits aufgelöst. In der Dunkelheit stehen einzelne Bereitschaftspolizisten, unter diesen auch ein paar Vermummte ohne Abzeichen. Tichari, die Leisetreter nennt man die Vermummten. Die seien richtig gefährlich.


ERST EINMAL TOURISMUS


Einige Gebäuden auf dem Platz sind mir von besonderem Interesse: die konstruktivistische Fabrik-Küche aus dem Baujahr 1936 ist ein bedeutendes Projekt sowjetischer Biopolitik gewesen. Das Kleinfamilien-Alltagsleben gehörte abgeschafft, der kommunistische Mensch hatte in öffentlichen Einrichtungen zu wohnen, in Kantinen öffentlich zubereitete Gerichte gemeinsam zu verzehren.


Die Fabrik war in der Lage täglich mehrere Tausend Menschen zu ernähren. Abends fanden hier oft Bankette und Bälle für Arbeiter und Bauer statt. Das Bauwerk des heutigen Gorki-Theaters rechts von der Fabrikküche wurde ursprünglich als Synagoge errichtet. Die sakrale Architektur hat sich auch für das darstellende Schauspiel als perfekt erwiesen.


WO GEHT ES HIN?


Spät in der Nacht treffe ich mich für einen Drink mit einer jungen weißrussischen Journalistin.

»Bist du gut angekommen? Gab es Fragen an der Grenze?«

»Nicht mal 'ne kleinste. Einfach Pass vorgezeigt und vorbeimarschiert.«

»Verstehe... Problematisch ist eher die östliche Grenze. Wegen der Pandemie verwehrt die Russische Föderation, außer aus triftigen Gründen, seinen Bürgern die Aus- und Ausländern die Einreise. Daher floriert an der russisch-weißrussischen Grenze der Menschenschmuggel. Man passiert grüne Grenze zum Tarif mehrerer tausend Rubel.«


Als regierungskritische »Westlerin«, verurteilt sie die coronaskeptische Haltung der Regierung. Lukaschenko begründete seine Kritik gegen der Isolationsmaßnahmen wie folgt: »Menschen in stickigen Wohnungen einzusperren ist krank! Ihr tötet sie in den Buden! An Problemen muss man tüfteln, nicht Grenzen schließen, nicht Leute einsperren! Man weiß schon seit Ewigkeiten: Bei einer Erkältung oder einer Grippe tut frische Luft gut. Daher verstehe ich diejenigen nicht, die uns raten, zu isolieren, zu schließen, auszusperren! In Zeiten der Coronahysterie dürfen wir Patienten anderer Krankheiten nicht vergessen. Es gibt vielfach mehr Todesfälle durch andere Krankheiten, aber ihr habt euch ausschließlich auf einen Virus konzentriert.«


Meine Gegenüber erzählt mir eine herzzerreißende Geschichte von einer Mutter vieler Kinder, die, leider Gottes, an Covid gestorben sei.

»Kennst du persönlich Weißrussen, die an Corona gestorben, ja erkrankt sind?«

»Nein, persönlich keine... Nein...«

Auf einmal schweigt sie und schaut durch Fenster in die Dunkelheit draußen. Es passieren fensterlose Minibusse ohne Autonummern.

»Tichari, die Leisetreter.«


Dieser Text erschien exklusiv online auf demokratischerwiderstand.de 




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 19 am 11. Sep. 2020




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